Die Heimkehr der Göttin  

 

Heilung, Transformation und Ganzheit mit dem weiblichen Archeplot


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Die Stationen des mythischen Archeplots - die weibliche Heldenreise


1. Die Welt der Väter


In Campbells Heldenreise ist dies »die normale Welt«. Wir Frauen werden geboren in einer Welt, die von Männern definiert wird und die uns Frauen unseren Platz zuweist. Wir erleben Widersprüche, etwa, dass Jungen von Anfang an mehr Freiräume erhalten als wir, doch noch fehlt uns das Bewusstsein, diese Widersprüche zu dekonstruieren. Wir wollen geliebt werden, von unseren Vätern und wir schauen all die romantischen (Disney)filme, in denen uns beigebracht wird, dass es das Wichtigste im Leben einer Frau ist, den richtigen Mann zu finden und von ihm geliebt zu werden. Darin, so heißt es, liegt das höchste Glück im Leben einer Frau. Dann erst kann sie wahrhaft glücklich, wahrhaft Frau sein. 

Was in der klassischen Heldenreise die »normale Welt« ist, ist in der weiblichen Heldenreise die »Welt der Väter« – denn das ist unsere normale Welt.

Niemand erklärt uns, dass wir in das Patriarchat geboren werden, vielmehr spüren wir immer wieder, dass die Welt und wir irgendwie nicht zusammenpassen.

Man sagt uns, dass wir uns benehmen sollen, dass wir freundlich bleiben sollen, zugewandt, fleißig, hübsch, brav, hilfsbereit. Dann bekommen wir Anerkennung – und Liebe, zumindest wird uns das versprochen.

Das bedeutet, dass wir viele Anteile von uns – das wilde Mädchen – verdrängen und unterdrücken müssen. Wir passen uns an, um geliebt zu werden.

Der Grad dieser Anpassung kann sehr unterschiedlich sein. Möglicherweise wachse ich in einer sehr freien Familie auf, aber werde von Lehrern entsprechend geprägt. Ganz grundsätzlich reichen aber auch die Rollenbilder, die man uns im Fernsehen oder auf Social Media verkauft, damit wir anhand dieser Vorbilder lernen, welche weiblichen Verhaltensweisen erwünscht sind und welche nicht, und nach welchen Zielen wir unser Leben auszurichten haben. 

Wir beobachten an unseren Müttern und anderen Frauen, wie diese sich verhalten, und ahmen dieses Verhalten nach. Daraus entsteht unsere Prägung als Frau. Dazu gehören oft Scham, aber auch ein Hang zum Perfektionismus und zur Aufopferung. 

Viele Bereiche unseres weiblichen Seins erkunden wir nicht. Wir lernen nicht, zu träumen, uns zurückzuziehen, unserer inneren Weiblichkeit zu vertrauen, wir erfahren nichts von Göttinnen und der Großen Mutter, von heilenden Ritualen oder von Transformation und Transzendenz. 

Wir lernen, uns anzupassen und zu funktionieren und eine ganze Weile sind wir auch ganz gut darin, weil wir gar nicht wissen, dass es auch noch etwas anderes gibt. 

Die Göttin oder mythische Figur, die das verkörpert, ist die griechische Athene.  Sie ist die Tochter von Zeus, dem Göttervater, und gilt als Göttin der Weisheit, des Kampfes, der Strategie, der Handwerkskunst und der Wissenschaft. Athene wird oft mit einer Eule und einem Schild dargestellt, auf dem das Medusenhaupt zu sehen ist.

Medusa war in der griechischen Mythologie eine der drei Gorgonen, die als grausame Kreaturen mit Schlangen auf dem Kopf dargestellt wurden. Sie war die einzige Gorgone, die sterblich war und in einigen Versionen der Legende wird beschrieben, dass sie einst eine wunderschöne Frau war.

Laut der Mythologie wurde Medusa von der Göttin Athene verflucht, nachdem sie in ihrem Tempel eine sündhafte Tat begangen hatte. Der Fluch verwandelte Medusas Haare in Schlangen und machte sie zu einem abschreckenden Monster. Wer Medusa ins Gesicht sah, wurde sofort in Stein verwandelt.


Medusa wurde oft als Symbol der Angst oder des Bösen dargestellt, aber auch als Bewahrerin von Geheimnissen und Wissen. In vielen Geschichten wurde sie von Helden wie Perseus besiegt, der ihr den Kopf abschnitt und später als Waffe gegen seine Feinde benutzte.

Medusa steht für die alte, wilde Weiblichkeit, die sich nicht unterordnet, sondern ihre Feinde mit ihren magischen Fähigkeiten in Stein verwandelt. Sie repräsentiert die Macht der Großen Mutter.

Athene ermordet sie, um ihrem Vater zu gefallen, und trennt damit die Verbindung zur Großen Mutter. 

Sehr leicht können wir uns hier eine Frau vorstellen, die alles tut, um ihrem Vater zu gefallen und als Erwachsene nach dem »perfekten« Mann sucht, um ihn zu heiraten. Sie lebt im Außen, ausgerichtet auf Beifall von Männerseite, für ihren Erfolg, ihre sportlichen Leistungen, ihre Kameradschaft, während der Ruf des Weiblichen in ihr verkümmert. Oft erlebt sie irgendwann eine große Ent-täuschung, in der ihr klar wird, dass sie dennoch nie völlig von Männern akzeptiert und anerkannt werden wird – einfach weil sie eine Frau ist. Das ist meistens ihr Eintrittspunkt in die Krise und den Wandel. 

Ein Beispiel aus Literatur und Film ist der Film »Titanic« von Peter Jackson. In diesem Film wird die weibliche Heldenreise inklusive des Wandels durch eine Krise – die sogar im Außen sichtbar gemacht wird durch den Untergang der Titanic – abgebildet, was zeigt, dass Hollywood längst um den Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Heldenreise weiß, vielleicht auch nur unbewusst.

Kate Winslet geht als Rose DeWitt Bukater an Bord der Titanic. Sie ist eine Tochter aus wohlhabendem Haus und mit einem vielversprechenden jungen Mann verlobt. 

In der Welt der Väter sind wir vollkommen unbewusst. Wir tun das, was man von uns erwartet und ahnen nicht einmal, dass es da noch eine ganz andere Welt gibt. Hin und wieder meldet sich vielleicht ein Gefühl der Irritation, über eine Welt, die so ablehnend uns gegenüber ist, aber da alle anderen das auch so akzeptieren, denken wir, es sei nur ein Gefühl, das uns überfällt. 



 2. Der Ruf der Sehnsucht


Was in Campbells Heldenreise »der Ruf des Abenteuers« ist, ist für Frauen der Ruf der Sehnsucht. Irgendwann ist er da, der Eine, auf den wir so lange gewartet haben. Zumindest sind wir uns dessen sicher. Da kommt ein Mann, für den wir alles über den Haufen werfen, Studium, Job, Freiheit, um mit ihm die langersehnte Zweisamkeit zu leben. Wir reisen, wir heiraten, alles scheint perfekt. Ja, es scheint. Denn lange währt dieses Glück nicht. Die Kleinfamilie aus Vater, Mutter und Kind ist ein patriarchales Konstrukt. In Wirklichkeit lebte die Menschheit über Jahrtausende hinweg in matrifokalen Kleingruppen mit den Müttern im Zentrum. Frauen waren die verbindenden Elemente der Gemeinschaft, Hierarchien, Macht, Krieg waren unbekannt. 

Die Frau spürt, dass etwas nicht stimmt und beginnt, sich nach etwas zu sehnen. Da sie nicht in Worte fassen kann, was es ist, sehnt sie sich zunächst nach dem, was ihr die Gesellschaft als Erfüllung vorgibt: Partnerschaft, Erfolg im Beruf, Schönheit, etc. 

Eine der bekanntesten und eindrucksvollsten Liebesgeschichten aus der keltischen Mythologie ist die Sage von Diarmuid und Gráinne.

Diarmuid war ein Krieger des Fianna, einer legendären Kriegergruppe aus dem Mythoszyklus der keltischen Mythologie. Gráinne hingegen war die Tochter von Cormac Mac Airt, einem König von Irland. Eines Tages wurde Gráinne von ihrem Vater dazu gezwungen, den ältesten Anführer der Fianna, Fionn mac Cumhaill, zu heiraten. Doch Gráinne war bereits in Diarmuid verliebt und floh mit ihm.

Fionn, tief verletzt und gedemütigt durch Gráinnes Flucht, setzte alles daran, sie und Diarmuid zu finden und zu töten. Aber Diarmuid und Gráinne waren schlau und geschickt genug, um immer einen Schritt voraus zu sein.

Sie lebten viele Jahre versteckt und verliebt zusammen, bis Fionn sie schließlich aufspürte und angriff. In einer dramatischen Schlacht kämpfte Diarmuid gegen Fionn und dessen Männer, aber er wurde tödlich verwundet.

Gráinne war untröstlich und bat Fionn um Vergebung. Doch Diarmuid starb in ihren Armen und sie wollte nicht ohne ihn leben. Sie bat Fionn, sie zu töten, damit sie zusammen sein konnten, und er gewährte ihr diesen letzten Wunsch.

Die Geschichte von Diarmuid und Gráinne steht für die Macht der Liebe und die Opfer, die man bereit ist, für sie zu bringen. Sie zeigt auch die Konflikte und Spannungen zwischen verschiedenen Clans und Kriegergruppen, die in der keltischen Mythologie eine wichtige Rolle spielten.

Der Ruf der Sehnsucht in Gráinne war so groß, dass sie bereit war, dafür zu sterben. 


In unserer Welt ist es eine junge Frau, die sich unsterblich in einen Mann verliebt, in der Fürsorge und Hingabe zu ihm vollkommen aufgeht. Frauen sind wunderschön, wenn sie lieben.

Leider ist der darauffolgende Schmerz unvermeidlich. 

In dieser Phase beginnt die Sehnsucht in uns zu pochen, erst ganz leise, dann immer lauter, bis wir diesen Ruf nicht mehr ignorieren können. Wir sträuben uns, verleugnen ihn, tun so, als ob alles in Ordnung ist, doch auf einmal ist das, was wir kennen, nicht mehr genug und wir sehnen uns nach dem Unbekannten. Es ist unsere Seele, die uns ruft, die uns auffordert, auszubrechen aus dem Gewohnten, um uns selbst zu erfahren. 

Wir fürchten das Unbekannte, wir stemmen uns dagegen, doch das Lied der Sehnsucht lässt sich nicht mehr zum Schweigen bringen, wenn es einmal erwacht ist und bald durchzieht es unser ganzes Leben. 

Es kann ein Mensch sein, der in unser Leben tritt, aber auch nur ein neuer Gedanke, eine Idee, die uns nicht mehr loslässt. Oft denken wir in dieser Phase zuerst: »Das darf nicht sein!«

Doch dann wird das Lied nur noch lauter und drängender, es verfolgt uns bis in unsere Träume und schließlich geben wir nach.

Eine große Lebendigkeit stellt sich ein, alles kommt in Bewegung. Wir empfinden Euphorie und schwingen ganz hoch. Wir werden von Liebe, Hoffnung und Zuversicht durchströmt. Wir lieben und werden geliebt und alles ist, wie es sein soll. 

Diese Phase kennen auch Literatur und Film: Bella verliebt sich in »Twilight« in Edward, der mysteriös und faszinierend ist, ohne zu wissen, was sich in Wirklichkeit hinter ihm verbirgt. Auf der Titanic verliebt sich Rose in Jack. Christa Wolfs Kassandra verliebt sich in Apoll. 



 3. Der Verrat/der Verlust


Es kommt, wie es kommen musst. Die romantische Illusion bekommt Risse. Der Traummann betrügt uns, schlägt uns, verlässt uns oder entpuppt sich einfach nur als Langweiler. Vielleicht ist er auch ein Narzisst oder einfach nicht der, für den wir ihn hielten. Wir bekommen das Gefühl, betrogen worden zu sein, nicht nur von ihm, sondern von der ganzen Welt. Dieses Gefühl kennen Frauen gut. Worauf es jetzt ankommt, ist, wie sie damit umgehen. 

Während sie nach dem perfekten Partner, dem perfekten Job, dem perfekten Aussehen strebt, kommt die Frau in eine Krise. Der Partner betrügt sie, der berufliche Erfolg stellt sich als Sackgasse heraus, sie fühlt sich verraten und empfindet einen starken Verlust. 

Der Verrat ist eine große Ent-Täuschung und das kann sehr schmerzhaft sein. Mayas Schleier wird beiseitegeschoben, und wir sehen die Dinge auf einmal in einem anderen Licht.

Das Thema Verrat hat viele Aspekte. Wir können durch Freundinnen und Gefährtinnen verraten werden, weil sich Konkurrenz und Neid breitmachen. Wir können durch unsere Eltern verraten und im Stich gelassen werden oder durch unsere Kinder, die sich gegen uns wenden.

Wir können uns selbst verraten, weil wir Dingen nachjagen, die nicht für uns bestimmt sind. 

Wir können von den Institutionen verraten werden, denen wir vertrauen, Ärzten, Krankenhäusern, Therapeuten, Coaches oder von der Gesellschaft als Ganzes, weil wir uns im Stich gelassen fühlen, aussortiert.

Die Göttin, die das repräsentiert, ist die walisische Blodeuwedd. Blodeuwedd ist eine Figur aus der walisischen Mythologie. Sie wurde von Gwydion, dem keltischen Gott des Lichts und der Musik, erschaffen, um den Helden Lleu Llaw Gyffes zu heiraten.

Laut der Legende wurde Blodeuwedd aus Blumen und Frühlingskräutern geschaffen und war so schön, dass Lleu sofort in sie verliebt war. Doch Blodeuwedd hatte ein Geheimnis: Sie hatte keine menschliche Seele und fühlte sich nicht zu Lleu hingezogen.

Eines Tages traf Blodeuwedd den Jäger Gronw, der sie verführte und Lleu in einem Komplott tötete. Als Strafe für ihren Verrat wurde Blodeuwedd in eine Eule verwandelt und musste fortan als Vogel durch die Welt fliegen.

Blodeuwedd für die Konsequenzen von Verrat und Betrug. Trotz ihrer tragischen Geschichte wird sie bis heute als eine der ikonischsten Figuren der walisischen Mythologie angesehen. Sie repräsentiert die Liebe zur Natur. Lleu steht für die patriarchale Ordnung, der Jäger als mythische Figur ist immer verbunden mit der alten Ordnung der großen Mutter. Gronw erweckt ihre Liebe und weckt sie aus dem patriarchalen Dornröschenschlaf. Der »Verrat« ist also nur aus patriarchaler Sicht einer. In Wirklichkeit befreit sich Blodeuwedd. 

Medea war eine Figur aus der griechischen Mythologie und die Tochter des Königs von Kolchis. Sie ist vor allem für ihre Rolle in der Tragödie »Medea« des antiken griechischen Dramatikers Euripides bekannt.

In der griechischen Mythologie half Medea dem Helden Jason, das Goldene Vlies zu finden, indem sie ihm magische Kräuter gab und ihm half, verschiedene Prüfungen zu bestehen. Im Gegenzug bat sie ihn, sie zu heiraten und mit ihr in seine Heimatstadt Iolkos zurückzukehren.

Doch als Jason und Medea in Iolkos ankamen, wurde ihnen klar, dass sie dort nicht willkommen waren. Jason beschloss, eine andere Frau zu heiraten, und Medea war außer sich vor Wut und Verzweiflung. Sie beschloss, für ihren Mann zu kämpfen und tötete ihre eigenen Kinder, um Jason zu strafen und ihm den größtmöglichen Schmerz zuzufügen.

Medea opfert sich für den Geliebten auf, doch er verrät und verstößt sie. Das kennen wir möglicherweise aus unserem eigenen Leben. Unser Partner, unser Vertrauter, verrät uns, geht fremd oder misshandelt uns emotional. Er ist rücksichtslos. 

In »Twilight« erkennt Bella, dass Edward ein Vampir ist und sie in tödliche Gefahr bringt, Rose auf der Titanic sieht das wahre Gesicht ihres Verlobten und Kassandra wird dazu gezwungen, mit Aeneas zu schlafen.

Der Schleier ist weg, die Illusion ist weg, doch uns stürzt das in das Chaos. Der Schmerz ist unermesslich, denn der Zusammenprall mit der Realität ist hart.  


 4. Das Labyrinth der Seele


Die Ent-Täuschung löst die Krise aus und ab jetzt irren wir durch das Labyrinth unserer eigenen Glaubenssätze, Prägungen und Überzeugungen. Wir sind erfüllt von Selbstzweifeln, von Angst, von Kummer und Schmerz. Die Einsamkeit frisst uns auf. 

Die Illusion der Einheit der Paarbeziehung wurde zerstört. Das Gefühl des Getrenntseins ist stark und so irrt die Frau nun durch ein Labyrinth. Wer bin ich eigentlich? Und was ist das für eine Welt, in der ich da lebe? Eine Welt, die mir sagt, ich könnte sein, wer ich will, und mich doch immer wieder in Rollenmuster zwängt, die meine Freiheit beschneiden, ja, die mir sogar Gewalt antun? Von Porno bis Prostitution, von Alltagssexismus bis häuslicher Gewalt und Femizid die Welt ist voll von dem, was das Patriarchat Frauen antut, während es uns erzählt, wir seien frei. Auch emotionale Gewalt, psychischer Missbrauch oder schlicht Vernachlässigung sind Teil dieser Täuschung. 

Jetzt kann die Frau nicht mehr wegsehen. Sie irrt umher und sucht verzweifelt einen Ausweg, um die Ordnung in ihrer Welt wieder herzustellen. Fatalerweise gibt es dafür verschiedene Möglichkeiten. Sie kann sich einfach wieder in die nächste Paarbeziehung stürzen. Sie kann trinken, Drogen nehmen, sich betäuben, sich mit Arbeit ablenken. Sie kann vor der Wahrheit davonlaufen. Oder sie trifft die Entscheidung, das Labyrinth verlassen zu wollen. 

Die Krise wird immer stärker und mit ihr die Verwirrung der Frau. Sie sucht nach einem Ausweg, aber aufgrund des Mangels an Vorbildern, auch in Form von Storytelling und gelebten Archetypen gelingt es ihr zunächst nicht, einen Ausweg zu finden. Wir kennen Frauen, die nach der Trennung von ihrem Mann in Krisen gerät. 

Rhiannon ist eine Figur aus der walisischen Mythologie und gilt als Göttin oder Fee. Ihr Name bedeutet »Große Königin« oder »Göttin der Pferde«. Sie wird oft mit einem Pferd dargestellt und ist bekannt für ihre Schönheit und ihre Fähigkeit, übernatürliche Kräfte zu besitzen.

In der Mythologie ist Rhiannon vor allem für ihre Rolle in der Geschichte »Pwyll Pendefig Dyfed« bekannt. In dieser Geschichte trifft der Prinz Pwyll auf Rhiannon, die auf einem weißen Pferd reitet. Er verliebt sich sofort in sie und beschließt, sie zu heiraten.

Doch es gibt einige Schwierigkeiten: Rhiannon wird von ihrem eifersüchtigen Ex-Liebhaber verfolgt.

In der walisischen Mythologie wird Rhiannon vorgeworfen, ihr Kind getötet zu haben. In der Geschichte »Pwyll Pendefig Dyfed« verschwindet ihr Sohn Pryderi plötzlich und niemand weiß, was mit ihm passiert ist.

Obwohl Rhiannon beteuert, dass sie unschuldig ist, wird sie von den Menschen beschuldigt, ihr Kind getötet zu haben. Sie wird gezwungen, ihre Tat zu gestehen, und wird von der Gemeinde bestraft. Als Strafe muss sie auf ewig als Pferd dienen und die Besucher des Königs in einem Sack auf ihrem Rücken tragen. Tatsächlich ist sie das Opfer eines männlichen Plots aus Eifersucht. Man schiebt ihr die Schuld in die Schuhe.

Auch das kennen viele Frauen. Ihr Mann geht fremd, die Kinder verhalten sich nicht so, wie sie sollen, und an allem ist die Frau schuld. Sogar an ihrem eigenen Leid gibt man ihr die Schuld. Sie soll sich nicht so anstellen, sich nicht gehen lassen, andere bekommen das doch auch hin. 

In der Popkultur wird diese Station der weiblichen Heldenreise durch Britney Spears symbolisiert, die sich die Haare abrasiert und von allen für verrückt erklärt wird. 

Rose und Jack irren auf der Titanic durch die sinkende Titanic, Bella wird von Vampiren verfolgt, Kassandra hat ihren Anfall. 

Das Buch »Girl on the Train« beginnt mit der Krise, dem Moment, in dem Rachel Watson im Zug sitzt und ihren Ex-Mann beobachtet, ohne sich vollständig an die Vergangenheit zu erinnern oder ihn zu durchschauen. In Rückblenden/Erinnerungen werden dann die vorangegangenen Stationen erzählt. Effi Briest ist den Gaslighting Techniken ihres Ehemannes ausgesetzt. 


Das Labyrinth hat viele Aspekte. Es erinnert uns daran, dass wir das Gefühl haben können, im Kreis zu laufen, und immer wieder in denselben Situationen landen, doch in Wirklichkeit nähern wir uns dem Punkt der Mitte an und finden ihn irgendwann. Es kann sich anfühlen wie eine Unendlichkeit, doch irgendwann erreichen wir jenen Punkt. 

Ein anderer Aspekt ist, dass es Frauen gibt, die nicht aus dem Labyrinth herausfinden, weil sie tief in sich nicht bereit sind, die Überzeugungen aufzugeben, die sie hierhin gebracht haben. Sie können ihr altes »Ich« nicht sterben lassen und sind deshalb dazu verdammt, im Labyrinth zu bleiben. 

Wenn wir uns im Labyrinth befinden, dann ist die Welt ein dunkler Ort. Alles besteht aus Schmerz, Zweifeln und Angst. Wir irren umher, haben jede Orientierung verloren und das Gefühl, dass wir wie ein Spielball von den Stürmen des Lebens herumgeworfen werden. Das kann uns bitter machen und zornig, vor allem aber ist es sehr erschöpfend. 

Wir haben das Gefühl, dass es keinen Ausweg gibt. Wir laufen und laufen, laufen gegen unsere Probleme an, doch wir drehen uns im Kreis. Die Stimmen, die wir hören, scheinen uns zu verhöhnen, wir finden keine Ruhe, liegen nächtelang wach, zerquält und verzweifelt.

Wir flüchten uns in Alkohol, Drogen, Ablenkungen, wir betäuben uns mit Arbeit, Sport und Stress bis zur Bewusstlosigkeit und irgendwann ist uns alles egal. Das Leben ist gegen uns und es ist sinnlos, wir wissen selbst nicht mehr, wieso wir weitermachen.

Die Krise wird immer stärker und stärker und der Wunsch in uns, einfach aufzugeben, wird immer größer. 

Doch da, in der Dunkelheit, da sind wir nicht allein. Die große Mutter in Gestalt der Hekate sucht uns auf, mit ihren Fackeln, sie bringt Licht, Trost und Hoffnung. Sie lädt uns ein, auf uns selbst zu vertrauen. Sie sagt uns: »Es gibt einen Weg hinaus! Alles, was es braucht, ist deine Entscheidung.«

Wenn der Schmerz groß genug ist, dann wird die Frau die Entscheidung treffen, das Labyrinth verlassen zu wollen, auch wenn das bedeutet, dass sie alles verliert, was sie zu besitzen glaubt.

Der Weg hinaus aus dem Labyrinth kostet das Leben, das alte, vertraute, unnütz gewordene ich der überkommenen Überzeugungen, damit ein neues, wahreres ich geboren werden kann. Es ist ein echter Tod, eine tiefe Transformation, die Annäherung an den Nullpunkt. 



 5. Die Begegnung mit dem Wächter


Mit der Entscheidung allein, das Labyrinth zu verlassen, ist es nicht getan. Nun schweben wir im luftleeren Raum, sind irgendwo zwischen Leben und Tod, im Raum, wo alles möglich ist. Das ist ein zugleich beängstigender als auch beunruhigender Zustand. Lebe ich? Oder bin ich schon tot? 

 Plötzlich steht die Frau vor jemand, der sie auf die Probe stellt. Er sagt ihr: »Du kommst hier nicht vorbei.« Er steht zwischen dem, was die Frau sich so sehr wünscht und was er von ihr verlangt, ist, dass sie es einfordert, dass sie Einlass zu jenem Bereich des Göttlichen verlangt, an dem sie Heilung findet.

Ein unangenehmes Gefühl!

Worum geht es? Was immer es ist, das die Frau möchte – Heilung, Freiheit, Erkenntnis – sie muss es beanspruchen und sie muss laut, mit aller Kraft, in das Universum schreien, dass es zu ihr gehört, dass sie es besitzen darf, dass sie würdig ist, eingelassen wird.

Die Frage, die sich an dieser Stelle stellt, ist: »Wie sehr willst du es wirklich?«

In diesem Sommer 2023, in dem ich dieses Buch schreibe, habe ich mir vorgenommen, schwimmen zu gehen, jeden Morgen. Seit Anfang Mai – und es war ein kalter Mai – bin ich jeden Morgen im Schwimmbad. Ich bin schneller geworden, stärker, ich bin an Tagen schwimmen gegangen, an denen meine Migräne – mein großer, alter Feind – mich in die Knie zwang, an denen ich Sorgen hatte, Liebeskummer. 

Und ich wurde, unbeabsichtigt, einfach, weil ich jeden Tag da war, Teil einer Gemeinschaft, einer Gemeinschaft von Frauen, die dort jeden Morgen schwamm. Ich bewunderte die Kraft und die Eleganz, mit der sie durch den Sportbereich des Schwimmerbeckens schwammen, und ihr Alter, ihr Gewicht, all das spielte keine Rolle. Von den Männern war in jenem kalten Mai nichts zu sehen.

Eines Tages entschied ich, dass ich so sein wollte, wie sie. Ich wollte lernen, richtig zu schwimmen, mit dem Kopf unter Wasser. Also kaufte ich mir eine Schwimmbrille. 

Aber das mit dem Atmen und Schwimmen war viel schwerer als gedacht. Zwei Tage lang prustete ich und schluckte Wasser.

Dann sagte Jutta, eine der Frauen, die dort täglich schwammen, ich soll es doch zuerst einmal mit einem Schwimmbrett versuchen und nur die Beine bewegen. Sie schenkte mir sogar ihr Schwimmbrett. 

»Du musst unter Wasser ausatmen«, sagte sie. »Beweg nur die Beine!«

»Isolationstraining«, sagte Iris und sie erzählten mir, wie lange sie geübt hatten, um das zu können, und zu diesen Zeitpunkten waren sie älter gewesen als ich es jetzt war. 

Und das tat ich. Ich übte, eine ganze Stunde lang und irgendwann, nach viel Wasserschlucken und Atemlosigkeit, schaffte ich es, mit Brett. 

Ich schwamm ganz am Rand, nicht einmal eine halbe Bahn beanspruchte ich.

Plötzlich tauchte neben mir ein Mann auf, mittelalt, mit bösem Gesicht. Er stank nach Arztseife und »male entitlement«, männlichem Anspruchsdenken.

Mit den anderen jungen Männern im Wasser legte er sich nicht an, auch nicht mit den älteren Frauen, aber mit mir, der Jüngeren, Tätowierten, tat er es.

Er war lange nach mir in das Wasser gekommen und hätte sich jede andere Bahn aussuchen können, aber er wollte meine halbe Bahn, weil er sah, dass ich etwas übte. In all den Wochen vorher hatte ich ihn nie gesehen, aber jetzt war er hier und er hatte eine Mission. Die Mission war, mich zu verdrängen. 

Also fing er an, direkt auf mich zuzuschwimmen und nicht auszuweichen und mich schließlich anzupöbeln. 

Ich ignorierte ihn und schwamm weiter meine Bahn, ich hatte ja ein Ziel. Aber dann beschimpfte er mich und für einen Moment dachte ich, ich sollte einfach aus dem Wasser gehen. Ich hatte keine Lust auf diese Konfrontation, auf die Beschimpfung, auf den widerlichen Geruch dieses ekelhaften Kerls. 

Aber ich wollte mir diesen Moment auch nicht nehmen lassen.

»Jetzt ohne Brett«, sagte Jutta.

Und das tat ich. 

Ich schwamm, mit meinem Kopf unter Wasser, als hätte ich nie etwas anderes getan. Ich glitt durch das Wasser, atmete ein und unter Wasser aus. Ich hatte es geschafft, dank der anderen Frauen.

Der böse alte Mann schwamm mit hochrotem Kopf davon und der Sieg war meiner.

Hätte ich aufgegeben, an dieser Stelle, dann hätte ich mir diesen Sieg genommen. Es kostete mich Mut, denn ja, ich habe schon viele hässliche und auch gewaltvolle Erfahrungen gerade mit dieser Art von Mann gemacht.

Aber das Schwimmen, das war wichtiger, das war größer als meine Angst.

Unter der Dusche dann erzählten mir die anderen Frauen dann unter lautem Gelächter von all den Malen, in denen sie von Männern bepöbelt wurden, nur weil sie schwimmen. 

»Das gehört dazu«, sagten sie und fast, nur fast, hatte ich das Gefühl, ab jetzt ein bisschen mehr eine von ihnen zu sein. 

Diese Geschichte ist belanglos, im Gegensatz zu dem, was Frauen Tag für Tag für Kämpfe fechten, aber sie zeigt genau, um was es geht. 

Die Frau muss alles ablegen, was sie über sich zu wissen glaubt. Von hier aus geht es nur nackt weiter, schutzlos. All ihre Waffen, all ihre angehäuften Gewissheiten, sie muss sie abstreifen. Alle »Wahrheiten« der Oberwelt gelten hier nicht mehr. Ist sie bereit, sie loszulassen? Übertritt sie diese Schwelle, ist nichts mehr, wie es war, es gibt kein Zurück mehr. Deshalb prüft der Wächter sie. Meistens ist es jemand, den wir nicht besonders gut leiden können, eine unangenehme Begegnung, jemand, der uns durch und durch durchschaut und all unsere Ablenkungs- und Selbsttäuschungsmanöver durchschaut. »Ich bin ein Opfer« oder »immer gerate ich an die falschen Männer«, sind solche Selbsttäuschungen. 


Vielen Frauen gelingt das nicht. Sie schrecken zurück, behalten ihre Rüstungen lieber an, bleiben im Schmerz, irren weiter durch das Labyrinth. 

Die Frau trifft auf jemanden (oder etwas), das oder der ihr klar macht, dass, um das Labyrinth zu verlassen, ein Opfer notwendig ist. Sie muss ihre alten Rollen abstreifen, ebenso alles, was sie über sich selbst zu wissen glaubt. 

In dem Augenblick, in dem wir entscheiden, das Labyrinth zu verlassen, taucht ein Licht in der Dunkelheit auf. Es ist die Fackel Hekates, die gekommen ist, um uns bei unserer Transformation zu helfen. Mit unserer Entscheidung rufen wir sie herbei und von hier an begleitet sie unseren Weg.

Als Beispiel stellen wir uns eine Frau vor, die sich einzurichten versucht mit einem sexistischen Chef und einem faulen Partner, trifft auf eine Mentorin, die ihr klar macht, dass sie so nicht weitermachen kann. 

Wir entdecken diese Station auch in Literatur und Film: Rose und Jack schaffen es nicht gemeinsam auf das Rettungsboot, Bella erfährt von den Quileute, welche Bedrohung die Vampire darstellen, Kassandra wird von Paris eine verschleierte Frau als Helena vorgestellt.



 6. Das Abstreifen der alten Haut


Wenn der Schmerz groß genug ist, dann ist die Frau bereit, das zu tun, was der Wächter verlangt. Sie streift alles ab, was sie ausmacht, brennt ihre alte Haut, ihr altes Sein nieder, rasiert sich den Schädel kahl, bis sie nackt dasteht. Alles, was sie einst in der Oberwelt ausmachte, ist vergangen. Sie ist nicht mehr »schön« im Sinne von »sexy«. Sie ist nicht mehr »reich«, nicht mehr »berühmt«, nicht mehr »begehrenswert«. Sie ist nicht mehr »die Frau von dem und dem« oder die »Mutter von dem und dem«. 

An jenem Tag, an dem der alte Mann mich im Schwimmbad belästigte, geschah noch etwas. 

Ich war zu dieser Zeit in einer längeren On-Off-Beziehung mit einem Mann, den ich seit meiner Jugend kannte. Mal war es brennende Leidenschaft zwischen uns, mal war es nichts als toxische Beziehungsgewalt. Ich war zu diesem Zeitpunkt längst so weit, dass ich wusste, dass ich es war, die diese Geschichte in meinem Leben hielt, aber ich hatte Angst davor, loszulassen. Ich war fast 40, ich sehnte mich so sehr danach, geliebt zu werden, eine Partnerschaft zu haben, dass ich die Augen vor all den hässlichen Sachen zwischen uns verschloss und an den guten festhielt.

An jenem Tag sagte er zu mir, nachdem er die ganze Nacht unterwegs gewesen war, getrunken und auch noch ein paar andere Sachen gemacht hatte: »Ich schlage dir den Schädel ein.«

Da wusste ich, dass es Zeit war, zu gehen. Dass das alte »Ich«, die verzeiht, erträgt, die gute Miene zum bösen Spiel macht, sich als verrückt hinstellen lässt, wenn er sein Verhalten mal wieder vor anderen entschuldigte, sie musste sterben. Ich musste diese Haut abstreifen, endgültig. Viele Male hatte ich schon Anlauf genommen, doch es war mir nicht gelungen. Warum? Weil die Zeit noch nicht reif gewesen war.

Aber jetzt war sie es. Ich nahm alles, was ich von ihm hatte, an Mittsommer, gab es in die Feuerschale und zündete es an. Dabei rief ich meine Energie, meine Liebe, meine Worte, alles, was ich ihm im Laufe der Jahre gegeben hatte, zu mir zurück und schrie ein lautes, entschiedenes: »Nein!«.

Danach war ich nicht nur nackt, ich hatte keine Haut mehr. Mein altes »Ich« war tot, das »Ich«, das gezaudert und gezweifelt hatte, dass gelitten hatte und traurig war. Aber ich war auch »seine« Partnerin gewesen. Wer war ich denn jetzt? Was, wenn ich für immer allein blieb? Davor hatte ich keine Angst mehr, denn jetzt stand ich selbst in Flammen. 

Dieses Brennen, dieses Abstreifen der alten Haut ist ein unendlich schmerzhafter Prozess. In unserem Leben ist das der Moment, in dem alles auf den Kopf gestellt wird. Wir verlieren Menschen, die auf einmal nicht mehr unsere Freunde sein wollen, weil sie mit diesem »Brennen« nicht zurechtkommen. »Ich verstehe dich nicht mehr« oder »ich weiß gar nicht mehr, wer du bist«, sagen sie. »Ich glaube, du hast dich verloren.« Stimmt! Das ist der Moment, an dem die Magie beginnt! 

Wenn das Leid groß genug ist, ist die Frau dazu bereit. Sie verlässt ihre Rollen, was zu Irritationen in der Außenwelt führt. Jetzt gilt sie als verrückt oder rebellisch.

Ein Echo dieser Station finden wir bei der mesopotamischen Göttin Ištar, die in die Unterwelt reist, um ihren Mann zu befreien und erst eingelassen wird, nachdem sie ihre Kleidung, ihren Schmuck und all ihre Waffen ablegt. Erst dann darf sie weitergehen.

Von hier geht es nur nackt weiter. Wir sind jetzt bereit, radikale Veränderungen durchzuführen. Das alte Selbst haben wir hinter uns gelassen. 

Rose aus »Titanic« kann nie wieder in ihr altes Leben zurück, sie kann sich nicht einmal sicher sein, dass sie den Untergang der Titanic überlebt, obwohl sie zur privilegierten 1. Klasse gehört. 

Bella aus Twilight entscheidet sich für Edward (und gegen Jacob) und Kassandras Bruder Troilos wird von Achill ermordet und sie nennt ihn fortan »das Vieh«. 


 7. Der Urgrund der Knochenmutter


Wer das Brennen übersteht, der gelangt zum Urgrund der Knochenmutter. Hier steht die Zeit still, hier ist der Nullpunkt. Dort sitzt sie, die alte Weise, die alles kennt und alles gesehen hat. Sie kennt all jene, die dir vorausgegangen sind, kennt jedes Leben, jedes Leid, das je beweint wurde, jeden Verlust, jeden Schmerz. 

Die Frau kommt nackt dorthin, mit geschorenem Haar. Ein großes Weinen ist dort, bei der Knochenmutter, das ganze Weinen der Welt, um all das Leid, das Männer in die Welt getragen haben und das Frauen erduldet haben, doch hier ist auch der Anfang für alles neue, wahre Leben. 

Eine Weile darf die Frau dort sitzen, darf bei der alten Knochenmutter einen Blick hinter den Spiegel werfen, sehen, wie das Netz des Lebens alles zusammenhält, wie ihre DNA mit der ihrer Vorfahrinnen verwoben ist und wie ihre Töchter ihr Erbe tragen. Erschreckend und schön ist es, was sie dort erfährt. Sie weiß nicht mehr, wer sie ist. Ist sie verrückt? Oder tot? 

»Was soll ich jetzt tun?«, fragt sie die Knochenmutter. 

»Etwas von dir muss hierbleiben«, sagt die Knochenmutter.

»Aber ich habe doch schon so viel verloren«, sagt die Frau. 

»Und dennoch«, sagt die Knochenmutter. 

Und hier, am Scheideweg, am Scheitelpunkt der Welt, beginnt der Heilungsaspekt der Transformation. Die ersten Abschnitte waren der Reinigung und Befreiung gewidmet, die sich oft schmerzhaft und chaotisch anfühlten. Aber jetzt ist die Frau der Welt »entrückt« und damit auch den Rollen, die man ihr aufdrückt.

Sie sieht die Oberwelt aus der Perspektive der Unterwelt und erkennt, was alles dort nicht stimmt. Die Schärfe, mit der sie das erkennt, wird sich später wieder mildern, doch hier, ist sie unbestechlich. Sie identifiziert all die Lügen, die man ihr erzählte, um sie zu kontrollieren, auch die Lügen jener, die sie lieben, wie ihre Eltern. 

Hier trinkt sie aus dem Becher der Wahrheit, den die Knochenmutter ihr hinhält. Er ist Gift und Medizin zugleich, so wie alle potenten Heilmittel. 


Die Frau gelangt innerlich (und äußerlich) an einen Ort der Wahrheit, wo sie erfährt, dass ihre Erfahrungen nicht auf sie allein beschränkt sind, sondern archetypisch bedingt sind für Frauen, die sich aus den patriarchalen Rollenmustern befreien wollen. Zwar hat der Feminismus große Fortschritte erlangt, doch in unserem Alltag haben viele Frauen ihre Mitte und ihre eigene weibliche Rolle noch nicht gefunden, sondern leben die nach, die durch eine nach wie vor männlich geprägte Gesellschaft vorgegeben werden, was zu einem Gefühl der Entfremdung und fehlenden Resonanz führt. 

Hier treffen wir auf Baba Yaga, der kein Leid auf der Welt fremd ist und bei ihr dürfen wir sitzen und klagen, eine Weile zumindest. Wir verschwinden aus der Oberwelt, sind nicht mehr sichtbar, hier, am tiefsten Punkt.

In einer Geschichte würde diese Station repräsentiert werden von einer Frau, die einige Tage auf einer Akutstation in der Psychiatrie verbringt, wo sie einige schmerzhafte Wahrheiten über sich selbst und das Leben lernt. 

Im Film und in der Literatur wird es drastisch: Die Titanic sinkt endgültig, Bella erkennt, dass sie niemals sicher sein wird, wenn sie an Edwards Seite bleibt, Kassandra wird von Aeneas verlassen. 


 8. Das Opfer


Wer aus der Reise in die Unterwelt etwas mitnehmen möchte, der muss einen Teil von sich da lassen. Die Frau hat nichts mehr, keine Kleider, keinen Schmuck, nicht einmal mehr Haare. Also muss sie etwas von sich heraustrennen und übergeben. Es kann ein Stück ihrer Seele sein oder ihres Körpers. Vielleicht ist es ihre Fruchtbarkeit. Vielleicht der Kinderwunsch. Vielleicht der Glaube an ihre Unverletzbarkeit, die Beziehung an ihre Mutter oder der Glaube an eine funktionierende Partnerschaft mit einem Mann. Es ist etwas Unwiederbringliches, etwas, das sie nie wieder erhält und das ihr Leben für immer verändert. Sie wird zögern. Sie wird hadern. Doch sie ist schon so weit gekommen. Sie wird das Opfer bringen.

In meiner Reise war es der Wunsch, eine Partnerschaft mit einem Mann zu leben, denn das bedeutete immer, dass ich Kompromisse einging, nur um nicht allein zu sein. 

Das Opfer, das ich brachte, war die tiefe Sehnsucht nach romantischer Liebe, mein »Moby Dick«, dem ich mein ganzes Leben lang schon nachjagte, ein großes Opfer. 


Die Frau erkennt, dass sie etwas aufgeben muss, meistens die Vorstellung von Glück, die ihr anerzogen wurde. Eine Partnerschaft, Erfolg im Beruf, etc. allein können sie nicht glücklich machen, solange sie sich selbst nicht gefunden hat. Sie muss es wirklich loslassen, dem großen Sterben anheimgeben. Von hier gibt es keine Wiederkehr, hier gibt es kein »Vielleicht« oder »Ich weiß nicht«.

Der Trank aus dem Becher der Wahrheit hat die Frau gestärkt. Sie ist jetzt, todesmutig, bereit, dieses Opfer zu bringen. Sie schneidet einen Teil von sich selbst heraus und opfert ihn blutig auf dem Altar der Wahrheit. 

Das Opfer hat oft etwas mit versteckten Scham- und Schuldgefühlen zu tun. Es sind Dinge, die wir uns selbst nicht eingestehen wollen, die wir leugnen und ignorieren, auch vor uns selbst. 

Wir opfern unser »falsches« Selbst, damit unser neues sich manifestieren kann. 

Wir erinnern uns hier an die griechische Persephone, die die Hälfte des Jahres in der Unterwelt verbringen muss. 

In unserer Gegenwart kann diese Phase so aussehen: Eine Frau macht den Missbrauch in ihrer Familie öffentlich und erträgt die Anfeindungen und die Isolation. 

Literatur und Film erzählen uns diesen Abschnitt so: Jack ertrinkt im eiskalten Atlantik (würde er überleben, würde Rose nur wieder eine neue Rolle annehmen, statt sie selbst zu werden), Bella enttäuscht ihren Vater und Kassandra trennt sich von Aeneas. 


 9. Der Blick in Inannas Spiegel


Wer ein Opfer bringt, der wird belohnt. In diesem Fall kann sich die Frau nun so sehen, wie sie wirklich ist. Sie darf einen Blick in den magischen Spiegel der Wahrheit werfen. Sie sieht sich als die göttliche Inkarnation, die sie immer war, bevor die Glaubenssätze des Patriarchats sie unterdrückten und sie von ihrer Anbindung an die Große Mutter trennten. Sie sieht ihre Schönheit, sie sieht, dass sie unbesiegbar ist, weil sie bis zu dieser tiefsten Höhle vorgedrungen ist, weil sie keine Angst vor der Wahrheit hatte. Sie erkennt, in welcher Lüge sie all die Zeit in der Oberwelt gelebt hat, und sie erkennt den gewaltigen Verlust, den das Patriarchat den Frauen aufgebürdet hat, über so viele Generationen hinweg. Sie erkennt, dass sie Teil einer jahrtausendealten Schwesternschaft ist. 

Sie erkennt ihr eigenes, unsterbliches, unverletzliches ich, stark, weiblich, unzerstörbar, mit unendlicher Schöpferkraft, jenes ich, das die Männer so sehr fürchten und von dem sie sie mit aller Macht zu entfremden versuchten.

Wenn sie dazu bereit ist, darf sie einen Blick in den Spiegel werfen. Sie darf sich selbst erkennen, mit all ihren Stärken und Schwächen, ihren Verletzungen und ihrem Potenzial. 

Davon erzählt uns die Geschichte von Inanna, die in die Unterwelt zu ihrer Schwester Ereskigal reist und dafür große Herausforderungen auf sich nimmt. 

Was die Frau von dort mitnimmt, ist das unbestechliche Vertrauen in sich selbst, in ihre Kraft, in ihre Macht. Niemand kann ihr das jemals wieder nehmen. Sie weiß jetzt, wer sie ist und das ist mehr wert als all das, was sie auf dem Weg hierher aufgegeben hat. 

Jetzt erst beginnt die wahre Magie ihres Seins. 


Eine mögliche Geschichte der Jetztzeit wäre eine Frau, die bereit ist, endlich auch Wut und Zorn zuzulassen und stellt ihren Vergewaltiger zur Rede, was ihr einen anderen Blick auf sich selbst ermöglicht. 

In Literatur und Film wird es spannend: Rose ist sich unsicher, ob sie auch sterben möchte, kämpft aber dann um ihr Überleben, Bella erkennt, dass sie Edward liebt und für diese Liebe bereit ist, alles zu opfern, und Kassandra zieht sich in den IDA-Berg zurück. 


 10. Die Heimkehr in den Schoß der Göttin


In all dieser Erkenntnis weint und trauert die Frau, sie trauert um all das, was verloren ist und das, was sie gefunden hat und sie wird zugleich durchströmt von unendlichem Glück, denn endlich, endlich ist sie angebunden. Da ist sie die Liebe, die Mutterliebe, die Liebe, nach der sie so lange gesucht hat. Sie kehrt heim in den Schoß der Großen Göttin, die immer da war und immer da sein wird, jene, von der wir alle kommen und zu der wir alle zurückkehren. Sie erfährt die Liebe, nach der sie sich immer gesehnt hat, vollkommene Einheit. Sie ist eine Tochter der Göttin, in all ihren Aspekten, die Jungfrau, die Mutter, die alte Weise, die Knochenmutter. Sie ist eins mit der Welt und dem Universum. Alle Wunden der Frau, alle Traumata, sie heilen, verschwinden. Aller Schmerz endet. 

Das kann ganz plötzlich, ohne äußeren Anlass, geschehen. Weil sich in der Frau etwas zutiefst gewandelt hat, wandelt sich nun auch das Außen. Ihre energetische Signatur ist eine andere. Sie ist heil, sie ist transformiert, eingehüllt in die Liebe der Großen Mutter. 

Das Motto dieser Stufe ist »Selbstliebe«. Denn die Liebe, die wir uns selbst entgegenbringen, ist nichts anderes als die Liebe der Großen Mutter. Wir erkennen, dass wir uns selbst lieben, nähren und heilen können und dürfen. Das ist die wichtigste Lektion von allen. 

Die Frau erkennt, dass sie nicht allein ist, sondern angebunden an eine nichtpatriarchale, allumfassende Kraft der Weiblichkeit, die alles durchströmt. Sie spürt eine mütterliche Gegenwart und eine Verbindung zu anderen Frauen, die die gleiche Reise antreten wie sie und sucht die Nähe zu ihnen. 

Das göttliche Licht, das uns an dieser Station findet, wird verkörpert von Sophia, die Allwissende und Weise, laut der Gnosis Mutter der Schöpfung.

In einer Geschichte könnte das so aussehen: Eine Frau in einer unglücklichen Beziehung lernt, sich selbst zu lieben. 

Als Blockbuster und Literaturklassiker sieht diese Station folgendermaßen aus: Rose wird gerettet, Bella kann Edward retten, Kassandra bekommt Zwillinge. 


 11. Die Wiedergeburt


Aus dem Schoß der Göttin, aus dem Quell allen Lebens, wird die Frau wieder geboren. Sie erhebt sich, setzt sich neu zusammen, ein neues, ganzes, heiles ich, unberührt, unverletzt von all den Anfeindungen des Patriarchats, strahlend schön, wird geboren. Sie ist geheilt. Sie ist ganz. Sie ist heilig, heil geworden im Raum der Göttin. Durch sie und mit ihr hat sie sich und ihre Vorfahren, ihre ganze Ahnenlinie geheilt und Segen über ihre Töchter gebracht, die sie vom patriarchalen Fluche befreit hat. Sie muss sie nicht korrumpieren, damit sie in der patriarchalen Welt funktionieren.

Jetzt ist die Frau bereit, sich selbst neu zu erschaffen. Sie hat ihre alten Rollenmuster abgestreift, auch ihre alten Überzeugungen abgelegt und wird als sie selbst wiedergeboren. Sie ist mit sich selbst im Reinen. 

Hier ist es Lilith, die sich weigerte, einem Mann untertan zu sein und die die Kraft und das Feuer dieser Neugeburt begleitet. 

Mit dem Wissen um ihr neues »Ich«, ihrem neugewonnen Vertrauen in sich selbst kehrt die Frau zurück in die Welt. Sie glüht, vor Kraft und Selbstliebe und für manche ist dieses Licht beinahe zu hell. 

Als Geschichte denkbar wäre folgender Plot: Nach einer öffentlichen Bloßstellung im Internet findet eine Frau den Mut, zu ihrer Geschichte zu stehen und ihren Gegnern die Stirn zu bieten. 

Auch Film und Literatur kennt diesen Abschnitt: Rose nimmt Jacks Nachnamen an und erreicht New York, Bella will sich in einen Vampir verwandeln und Kassandra kehrt nach Troia zurück.



 12. Die Herstellung der ursprünglichen Ordnung


Die Frau kehrt zurück in die obere Welt. Dort hat man sich schon Sorgen gemacht. »Was mit der wohl nicht stimmt?« Jetzt stimmt gar nichts mehr. Wie eine Furie fegt sie durch ihr Leben und macht Ordnung. Sie schmeißt alles raus und um, was nicht mehr stimmt, Männer, Job, Freundinnen. Nichts, was nach patriarchalen Regeln wirkt, darf noch in ihrem Leben sein. Es ficht sie nicht mehr an, was jemand über ihren Körper, über ihre Handlungen sagt. Sie ist frei und trägt das Feuer der Göttin in sich. Sie ist geschützt und gehalten in einem unsichtbaren Raum für all jene, die nie im Schoß der Göttin waren. Das Feuer brennt in ihr, doch es verbrennt sie nicht. Sie ist eine Frau der alten Ordnung, jene Ordnung, die war, bevor die Männer sie usurpierten und die Welt in Chaos und Leid stürzten. 

Es ist wichtig, diese Stufe nicht als »Kampf« oder »Rache« zu verstehen. Es geht vielmehr darum, dass die Frau aufgrund ihrer tiefen, inneren Entscheidung ihre Energie neu ausrichtet und das allein sorgt für mannigfaltige Veränderungen im Außen. Sie belohnt das, was ihr wichtig ist – sie selbst, ihr Körper, ihre Kinder und ihre Projekte – mit Aufmerksamkeit und Liebe und sie entzieht ihre Energie all jenen Zusammenhängen, die sie nur benutzt haben, denen sie dienlich sein sollte und die sie krank gemacht und die Krise hervorgerufen haben. 

Verkörpert wird diese Phase durch die Göttin Durga.

Durga ist eine hinduistische Göttin, die als Verkörperung der göttlichen weiblichen Energie (Shakti) und des universellen Schöpfers verehrt wird. Sie ist eine der bekanntesten und meistverehrten Göttinnen in Indien und hat viele Attribute und Namen, darunter Amba, Bhavani, Jagadamba, Annapurna, Kali und Parvati.

In der hinduistischen Mythologie ist Durga als die Kämpferin gegen das Böse bekannt. Eine ihrer bekanntesten Legenden erzählt, wie die Götter im Himmel von den bösen Dämonen bedroht wurden und keine Möglichkeit hatten, sie zu besiegen. Daraufhin schufen sie Durga als ihre Waffe, indem sie ihr verschiedene Kräfte und Waffen gaben.

Durga kämpfte gegen die Dämonen und besiegte sie schließlich in einem epischen Kampf. Sie symbolisiert Mut, Stärke und Weisheit und wird oft mit vielen Waffen dargestellt, um ihre Macht zu verdeutlichen.

Als Plot können wir uns folgende Situation vorstellen: Gegen den Widerstand ihres Vaters setzt eine Frau ihre Leidenschaft für Kunst durch und beginnt ein entsprechendes Studium. 

In Literatur und Film ist beides schon bekannt: Rose lebt ihr Leben frei und unbekümmert, sie lebt ihre Interessen aus, Bella und Edward sind endlich zusammen, Kassandra entscheidet sich gegen Aeneas, weil dieser droht, ein Held zu werden.



 13. Die neue, alte Welt der weiblichen Ganzheit


Jetzt lebt die Frau ihre Wahrheit, die aus ihrer Mitte heraus spricht. Sie kann sich einen Gefährten suchen oder es lassen, doch sie weiß, dass ihr Glück nicht in der Paarbeziehung liegt, sondern in sich selbst. Männer reagieren auf ihre geheilte Weiblichkeit mit Faszination, manchmal auch mit Aggression, doch sie hat keine Angst mehr. Sie hat das Spiel durchschaut. Ungeheilte Weiblichkeit jüngerer Frauen reagiert auf sie mit Manipulationsversuchen, mit der unbewussten Sehnsucht nach der starken, heilen Mutter, die es doch im Patriarchat nirgendwo gibt, alle möglichen Sehnsüchte und Vorwürfe werden an sie adressiert. Es wird versucht, sie in alle möglichen Dramen hineinzuziehen, damit sie wieder hineinpasst, in diese Welt aus Chaos und umgestürzter Ordnung, doch sie lässt sich nicht aus ihrer Mitte bringen. Sie ist sich selbst genug. Sie lebt ihre Wahrheit, ohne zu missionieren. Die Göttin spricht aus ihr und durch sie. Sie ist angebunden an etwas, das so viel größer und älter ist, als alles, was jetzt in dieser Welt ist. Sie kann kämpfen, wenn sie das möchte, doch sie wählt ihre Schlachten weise. Meist beschränkt sie sich auf die stille Bewunderung der Welt, der Schöpfung der Großen Mutter – ihrer Mutter! Was sie ist, war immer da und wird immer sein. 

Jetzt lebt die Frau ihr eigenes, authentisches Selbst und richtet sich nicht mehr nach anderen. 

Sie geht als Vorbild voraus, sie ruht in sich und ihrem Körper, was nicht heißt, dass man sie nicht mehr treffen kann. Aber sie hat jenen Punkt in sich gefunden, ein Gleichgewicht, eine Resonanz mit dem Göttlich-Weiblichen, zu dem sie immer wieder zurückkehrt und das bedeutet, dass man sie nicht mehr ver-rücken kann. Sie selbst ist jetzt das Zentrum ihrer Welt, mit einer großen Gravitationskraft. 

Gleich mehrere Göttinnen symbolisieren diesen Abschnitt: Artemis, Vila, Isis – Selbstbestimmung, die Fähigkeit, die eigene Gestalt zu wandeln und sich zurückzuziehen, Freiheit, weibliche Rollen so zu gestalten, dass sie Frauen erfüllen, wenn wir sie schon nicht ganz abstreifen können. 

Als moderne Übersetzung können wir uns folgende Situation vorstellen: Eine Frau gründet einen spirituellen Zirkel, zu dem sie Frauen einlädt, um mit ihnen Weiblichkeit zu feiern. 

So enden auch Filme und Bücher: Rose kehrt als alte Frau zurück und versenkt »Das Herz des Ozeans«, ein Kreis schließt sich, Edward und Bella wollen für immer zusammen sein, auch wenn Bella (zunächst) kein Vampir wird, und Kassandra entscheidet sich für den Selbstmord, weil sie erkennt, dass es in der streng patriarchalen Welt des antiken Griechenland für sie niemals Freiheit geben kann (im Gegensatz zu unserer Gegenwart).

 

Auszug aus meinem Buch "Die Heimkehr der Göttin - die mythische Heldinnenreise zu Transformation und Ganzheit"  - überall, wo es Bücher gibt


Die Geschichte der großen Mutter


Am Anfang war die Mutter, das große Runde, lebensspendend, nährend. Sie ist das erste »Du«, dass wir Menschen erleben, wir hören ihren Herzschlag schon, bevor wir ein Bewusstsein haben.


Es ist ihr Bewusstsein, das unserem antwortet, das uns in Form von Resonanz und Fürsorge dabei hilft, ein Selbst zu entwickeln. 

Es liegt also nahe, weshalb die ersten Vorstellungen, die wir uns vom Göttlichen gemacht haben, die einer Mutter ist. 

Den Menschen im Paläolithikum, also der Altsteinzeit, vor bis zu 50.000 Jahren, muss es wie ein Wunder erschienen sein, dass sich die Körper der Frauen wölbten und dann neues Leben hervorbrachten. Von der männlichen Rolle der Zeugung wussten sie nichts, weshalb der Vater in ihrem Verständnis auch keine Rolle spielte. 

Nach allem, was wir heute wissen, lebten die Menschen damals anders zusammen. Der Begriff dafür ist »Matrifokalität«1. 


Die Frauen und Mütter befanden sich im Zentrum einer Gruppe, gemeinsam mit ihren Kindern. Sie entschieden über die sozialen Belange. Alle waren miteinander verbunden, es gab keine Hierarchien. Die Männer kamen »zu Besuch«. Sie hatten eigene Aufgaben und wurden wertgeschätzt, aber die Entscheidung über die Belange der Gemeinschaft oblagen den Frauen, denn sie waren die Bringerinnen des Lebens. 


Die Frauen waren die Nährerinnen und Hüterinnen ihrer Gemeinschaft. Sie sorgten für Nahrung, indem sie aus der Natur sammelten, was notwendig war. Die Jagd der Männer stellte eine Ergänzung dar. Die Männer waren oft viele Wochen und Monate unterwegs und entwickelten dabei ihre eigenen Rituale, die mit der Jagd, der Einsamkeit und dem Vertrauen auf die eigene Kraft zu tun hatten.


Die Frauen hingegen wählten bewusst Zeiten des Rückzugs, in denen sie nicht der Gemeinschaft zur Verfügung standen, sondern sich mit der großen Mutter verbanden. Dazu suchten sie Höhlen auf, gingen bewusst in die Dunkelheit, um sich dem Göttlich-Weiblichen zu öffnen. Bis heute zeugen die Funde von Höhlenmalereien und anderen Überbleibseln davon, dass diese Höhlen während der gesamten Altsteinzeit über viele Jahrtausende hinweg aufgesucht und vor allem von Frauen rituell genutzt wurden. 


Für uns ist es heute schwer, uns diese Art von Zusammenleben vorzustellen, ein Zusammenleben in Frieden, in dem jedes Leben kostbar war und nicht in sinnlosen Kriegen oder Bestrafungen verschwendet wurde. 

Die Erde mit ihren Gaben wurde als ebenso mütterlich empfunden wie die Frauen mit ihren Segen spendenden Brüsten und Schößen. Leben und Tod, Träumen und Wachen wurden nicht als Gegensätze betrachtet, sondern als Bestandteile einer kosmischen Erfahrung. Vieles von dem, was wir uns heute wieder über Umwege aneignen, muss für die Menschen damals selbstverständlich gewesen sein, etwa, dass die Sterne ein Spiegelbild für die Ereignisse in ihrem Inneren sind.


Die Anfänge der Menschheit liegen im Dunkeln. Bis heute rätseln Wissenschaftler, woher wir kommen. Es gibt Hinweise darauf, dass Darwin – übrigens ein unbelehrbarer Frauenhasser wie so viele Helden unserer Kultur, etwa Aristoteles – mit seiner Theorie, dass wir vom Affen abstammen, gehörig danebenlag. Vielmehr könnte es durchaus sein, dass unsere Ursprünge im Ozean liegen, dass wir Wasserwesen waren, bevor wir an Land gingen. Das erklärte unsere nackte Haut und die langen Haare2. 


Doch den Beginn des menschlichen Bewusstseins können wir ziemlich genau auf einen Zeitpunkt vor 35.000 Jahren festlegen, denn zu jener Zeit begannen die Menschen – die Frauen – in Europa – sakrale Orte voll von Geschichten und Symbole zu erschaffen, die Höhlenmalereien.

Die Chauvet-Höhle im Süden Frankreichs, die erst 1994 entdeckt wurde, ist einer der bekanntesten und ältesten Orte mit steinzeitlicher Höhlenmalerei. Die Höhle enthält mehr als 470 Tier- und Symboldarstellungen, die die Wände von vier großen Grotten bedecken und stammen aus der Zeit vor 32.000 bis 35.000 Jahren. Die Forscher haben in dieser Höhle auffallend viele Handabdrücke und Handnegative gefunden, durch die sie früher annahmen, dass sie von erwachsenen Männern und halbwüchsigen Jungen stammen und möglicherweise im Rahmen bestimmter Rituale dort hinterlassen wurden. Klar! Die ersten Künstler waren Männer. Wie könnte es anders sein!


Als Dean Snow, ein Anthropologe von der Pennsylvania State University, in einem Fotoband mit Abbildungen steinzeitlicher Höhlenkunst blätterte, stellte er fest, dass der Handabdruck auf einem der Fotos eindeutig von einer Frau stammte. Daraufhin analysierte er Handabdrücke aus verschiedenen Höhlen in Südfrankreich und Nordspanien und fotografierte die Hände von heute lebenden Männern und Frauen aus der Region zum Vergleich. Seine Analysen haben gezeigt, dass 75 Prozent der steinzeitlichen Handabdrücke von Frauen stammten und nur 10 Prozent von erwachsenen Männern3.

Diese Höhlen wurden über verschiedene Jahrhunderte hinweg immer wieder als Ritualorte aufgesucht, was dafür spricht, welche Bedeutung sie für die Menschen jener Zeit hatten.

Die Altsteinzeit war ein langer Zeitraum, der sich von vor etwa 2,5 Millionen Jahren bis etwa 10.000 v. Chr. erstreckte. Während dieser Zeit waren die Menschen nomadische Jäger und Sammler, die in kleinen, mobilen Gruppen matrifokaler Ordnung lebten. »Matrifokal« bedeutet, dass der Fokus auf den Müttern als Garanten für das Weiterbestehen der Gruppe lag. Die Frauen spielten die zentrale Rolle in der sozialen Organisation jener Zeit, die die längste Epoche überhaupt in der menschlichen Existenz darstellte. 


Die Frauen waren für das Sammeln von Nüssen, Früchten, Samen und anderen essbaren Pflanzen zuständig, um sich zu ernähren. Sie sorgten nicht nur für die Ernährung ihrer Familien, sondern stellten auch Kleidung aus Tierhäuten und Knochennadeln her, mit denen sie warme Kleidungsstücke für die kalten Jahreszeiten zusammennähen konnten. 


Die Rolle von Göttinnen, deren Namen wir heute nicht mehr kennen, die aber letztlich alle die Große Mutter repräsentieren, und auf die wir nur noch Rückschlüsse ziehen können, etwa durch die fälschlicherweise »Venusfiguren« genannten Göttinnenfigurinnen war für diese frühen Gesellschaften besonders wichtig, da sie Fruchtbarkeit und Überfluss symbolisierten. Frauen nahmen an Ritualen und Zeremonien teil sie glaubten, dass ihre Opfergaben eine reiche Ernte einbringen oder für eine erfolgreiche Geburt von Kindern sorgen würden.


Die Venusfiguren waren klein und mobil, gesichtslos, mit von mütterlicher Fülle kündenden Rundungen und Brüsten. Die Vulva ist überbetont, weil sie als Symbol für die ewige Wiederkehr des Lebens verehrt wurde. Der Tod als Zwangsläufigkeit der Natur verliert seinen Schrecken, wenn wir wissen, dass er nur ein Übergang ist und wir alle getragen und gehalten sind in den ewigen Zyklen unserer großen Mutter. 

Erst das Patriarchat hat begonnen, den Tod als Tabu, als etwas Furchtbares aus dem alltäglichen Bewusstsein auszuklammern, in der fälschlichen, egogesteuerten Annahme, dass ein ewiges Leben möglich sei. Das findet sich übrigens heute auch in den vor allem von Männern vorangetriebenen Vorstellungen des Transhumanismus, bei dem es vor allem darum geht, den Tod zu überwinden, für den es nach patriarchaler Logik keine biologische Zwangsläufigkeit, keinen »Nutzen« gibt. Aus einer rein physikalistischen Sicht können unsere Körper ewig leben, doch auf einer metaphysischen Ebene ist die Wandlung durch den Tod unvermeidbar, damit unsere Seelen wachsen und wiederkehren können. 


Diese Rituale dienten auch dazu, die Bindungen zwischen den Frauen in den Gemeinschaften zu stärken, da sie oft Geschichten und Ratschläge in Bezug auf Göttinnen austauschten. 

Die Altsteinzeit war eine unglaublich wichtige Zeit für die menschliche Entwicklung, in der wir viele der Grundlagen für unsere heutigen Kulturen auf der ganzen Welt gelegt haben. Frauen spielten bei dieser Entwicklung eine Schlüsselrolle, indem sie für den Lebensunterhalt sorgten und durch rituelle Handlungen eine spirituelle Verbindung zu den Göttern herstellten. Das Erbe dieser frühen Anfänge, des längsten Kontinuums überhaupt in der menschlichen Entwicklung, ist vergessen. Wenn heute vom »Jäger und Sammler« die Rede ist, denken die meisten Menschen an Männer, die Frauen an den Haaren in Höhlen zogen, eine wilde, unzivilisierte Zeit voller Gefahren.

Doch auch eine andere Betrachtungsweise ist möglich. Das Zusammenleben war friedlich und es gab verhältnismäßig wenig zu tun. Die Gruppe konnte sich mit wenigen Stunden Arbeit pro Woche versorgen, es blieb viel Zeit zum Träumen und Geschichten erzählen, feindliche Begegnungen mit anderen Gruppen waren selten. Jedes Kind hatte eine Vielzahl von Ansprechpersonen. Für alle war gesorgt. 

Die Auseinandersetzung mit den Elementen mag rau gewesen sein, doch wir dürfen davon ausgehen, dass sich die Menschen jener Zeit anders als wir heute nicht im Widerspruch mit der Natur befanden, also die Natur nicht als etwas betrachteten, dass bekämpft werden musste, um zu überleben. Mutter Erde wurde als nährend, schützend und voller Fülle wahrgenommen, weil man mit ihren Zyklen lebte. 


Höhlen dienten vor allem als Ritualorte, nicht als Behausungen. Das ist der Grund, wieso wir heute dort noch immer Überbleibsel jener frühen, rituellen Handlungen finden können. 

Das erkennen wir auch an den Motiven, die von der patriarchalen Wissenschaft vor allem als »Jagdszenen« interpretiert werden. Tatsächlich aber sind es vor allem Säugetiere – Bären, Löwin, Pferde, Nashörner, Wisente, sowie das »M« Zeichen, also die Anfangssilbe von »Mutter«, »Mama«, das für die gespreizten Beine bei der Geburt steht. 


Die Göttin ist die »Mutter der Tiere«, nicht die »Herrin«4. Die Farben Rot, Schwarz und Weiß sind die Farben der Göttin, sie stehen für die Menstruation, die Wandlung des Todes und die nährende Milch. 

Es liegt nahe, wenn wir die Höhle als Schoß von Mutter Erde betrachten, wie eine Gebärmutter, ein Ort der Wandlung und Transformation, ein Refugium für jenen Teil des Lebens, der sakralen Handlungen vorbehalten war, um sich mit den kosmischen Energien zu verbinden. 

Monika Löffelmann, die sich mit den im Alpenraum vorkommenden Erdställen beschäftigt hat, hat aufgezeigt, dass »Höhle« und »Frau« sich im indogermanischen Sprachraum auf eine Silbe zurückführen lassen »KALL« – auf die auch die Göttin Kali zurückgeht5. Auch unsere Worte »Kult« und »Kultur« haben dieses Wort als Wurzel, sowie das lateinische »colere«.


Die Göttin als große, kosmische Mutter steht am Anfang des Lebenskreislaufs, alles kommt von ihr und alles geht zu ihr zurück. Anders als die patriarchalen Religionen steht sie nicht im Widerspruch zur Natur und ihren Zyklen, sondern SIE ist die Energie dieser Zyklen. 

Gewalt und Kriege als sinnlose Verschwendung des so kostbaren Lebens sind ihr fremd, der Tod aber ist Teil dieser ewigen Zyklen aus Geburt, Abschied und Wiederkehr. Nichts ist je wirklich verloren, sondern wandelt und transformiert sich nur. 


Die Göttin ist fruchtbar aus sich selbst heraus, die Quelle allen Lebens. Einen männlichen Partner gibt es nicht. 

Der Übergang zum Neolithikum, also der Jungsteinzeit, erfolgte allmählich und war durch ein zunehmendes Bevölkerungswachstum und die Entwicklung neuer Technologien gekennzeichnet. Um 10.000 v. Chr. begannen die Menschen, sich in größeren Gemeinschaften niederzulassen und errichteten dauerhafte Behausungen aus Stein oder Lehmziegeln. Sie begannen auch, Pflanzen anzubauen und Tiere für die Nahrungsmittelproduktion zu züchten. Dies stellte eine zuverlässigere Nahrungsquelle dar als das Jagen und Sammeln und ermöglichte eine weitere Ausdehnung der Bevölkerung. 

Eine wichtige Änderung trat ein, die für den weiteren Verlauf der Geschichte eine fatale Wirkung haben sollte: Menschen begannen, privaten Besitz anzuhäufen. In der »Jäger und Sammler« Gesellschaft, die nomadisch oder halbnomadisch lebte, war das nicht möglich, nun aber schon und damit begann sich Besitz auch langsam, aber sicher, in den Händen weniger zu konzentrieren. 


Das hängt vor allem mit der Viehzucht zusammen, die sich sehr viel weiter südöstlich ausbreitete, am sogenannten fruchtbaren Halbmond. Rinderzucht erfordert, dass man weiterzieht, wenn ein Gebiet abgegrast ist, außerdem ist nun nicht mehr Land der Bezugspunkt – Land, das allen zur Verfügung steht – sondern der Besitz von Vieh. Das führte zu einer radikalen Veränderung im Verhältnis der Menschen zu ihrer Umwelt. Schon im Ackerbau wird der Erde etwas abgerungen, eine Grenze geschaffen zwischen der wilden Natur da draußen und den kultivierten Feldern und Siedlungen drinnen, doch es geschieht im Bewusstsein dafür, dass Mutter Erde die große Lebensspenderin ist. 

Bei der Viehzucht wird der Mensch – und dabei vor allem der Mann – selbst zum Schöpfer, er greift massiv in die Natur ein und verändert durch Zucht lebendige Wesen. Er ist nicht länger Teil der Natur, sondern wird zu ihrem Herrscher. Zusätzlich entsteht nun irgendwo zwischen Euphrat und Tigris eine klare Vorstellung von Privatbesitz. Was »mein« ist, soll auch »mein« bleiben und nur »meinen« Nachkommen zur Verfügung stehen. Das ist der Beginn von Ehe, Unterordnung der Frau und patrilinearer Abstammung. 


Auch in West- und Nordeuropa veränderte sich das Zusammenleben der Menschen, wenn auch zunächst weniger drastisch. Die Rolle der Frauen verlagerte von der direkten Versorgung durch die Nahrungssuche hin zur Verwaltung des Anbaus von Feldfrüchten und der Pflege des Viehs. Frauen waren auch für Kunst und Kunsthandwerk wie die Herstellung von Töpferwaren und das Weben von Stoffen aus Pflanzenfasern zuständig, sowie spirituellere Aktivitäten wie Wahrsagen und Heilungsrituale. 

Frauen wurden also nach wie vor geschätzt, doch der Ackerbau und die Viehzucht erforderten sehr viel mehr Zeit und Arbeitskraft als das Jagen und Sammeln. Vor allem die Viehzucht, also der direkte Eingriff in die Natur, wurde zur Domäne der Männer, so dass es nahe lag, dass das, was sie mit Schafen, Pferden und Ziegen taten, prinzipiell irgendwann auch auf die Frauen übertrugen: die Idee der Zucht. Durch die Invasion von Völkern aus dem Süden und Osten kam diese Idee auch nach West- und Südeuropa und mit ihr Krieg, Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen und Kinder. Was wir heute als »indogermanisch« bezeichnen, ist das Erbe dieses feindlichen Eindringens in den europäischen Kulturraum und der Synthese dieser beiden Menschengruppen, aus dem im Laufe der Zeit eine neue Kultur, etwa die Kelten oder auch die Germanen, wie wir sie uns vorstellen, hervorgingen, die vor allem auf Ackerbau und Viehzucht beruhte, sesshaft war und den Mann als Oberhaupt von Familie und Gesellschaft betrachtete. Das hatte Konsequenzen – für die Frauen und für die Verehrung der großen Mutter. 

Wer Besitz anhäuft, möchte ihn innerhalb seiner Familie weiter vererben. Doch die Sexualität der Altsteinzeit kannte weder eine Ehe noch Monogamie. Abstammung wurde über die Mutter festgelegt. 


Jetzt aber findet ganz allmählich eine Veränderung statt. Durch die Viehzucht verstehen die Menschen – vor allem die Männer, den Frauen war das wohl auch schon vorher klar – dass es zur Befruchtung auch den Mann braucht. Ab diesem Zeitpunkt hat die Göttin einen Gefährten, einen »Befruchter«. Aus der göttlichen Mutter werden göttliche Eltern, sie ist Mutter Erde, der Mann wird zum Vater aus dem Himmel. Im Grunde ist das der Beginn des Dualismus, dieser Übergang markiert eine wichtige Veränderung im menschlichen Bewusstsein, wie E. O. James, Professor für Geschichte, Philosoph und Religion an der Universität bereits in den frühen 1950er Jahren darlegte6.  Erst ab dieser Zeit gibt es auch Phallus-Darstellungen als Fruchtbarkeitssymbole. 

Die Erkenntnis der Rolle der Vaterschaft führte dazu, dass die Göttin nun einen Sohn hatte, der zugleich zu ihrem Geliebten wurde. Anders ging es nicht – denn alles Leben stammte aus dem Schoß der Göttin. Doch dieser Sohn war ihr noch untergeordnet. 

Die neue Sesshaftigkeit brachte weitere Probleme mit sich. Die Bevölkerung wuchs und der Besitz ließ Begehrlichkeiten entstehen. Die Zahl der Überfälle stieg an und aus den Jägern wurden Krieger. 

Nicht selten raubten diese Frauen und zwangen sie zur Arbeit und Gebärtätigkeit in ihren Gruppen. Langsam, aber unaufhörlich verschob sich das Machtgefüge, weg von den Frauen, hin zu den Männern.

Das war ein langsamer Prozess, der sich über viele Jahrtausende vollzog, bis wir schließlich um 5.000 v. Chr. in Babylon und später in Griechenland ankommen, in denen die Göttinnen entthront wurden, Frauen den Männern untertan sind und Abstammung nur noch über die väterliche Linie definiert wird.

Aus dem göttlichen Sohn wurde der himmlische Vater, dem die Frau untertan ist, der Beherrscher des Pantheons, ob Zeus bei den Griechen oder Osiris in Ägypten, der ursprünglich der Sohn der großen Muttergöttin Isis und ihren verschiedenen Aspekten war. 


Die große Muttergöttin und ihre regionalen Emanationen – wir können davon ausgehen, dass die Lebenswelt, in der sich die Menschen des Paläolithikums bewegten, beeinflusste, wie sie die große Muttergöttin wahrnahmen, ebenso, welche Jahreszeit es war – verloren zunehmend an Bedeutung. Im Frühjahr war sie die junge Frau, im Sommer die reich mit Gaben gefüllte Mutter und im Winter die alte Weise. Sie trug wahrscheinlich viele Namen, doch ihre Bedeutung war die gleiche, ebenso wie ihre Verehrung. Mit den Ritualen in den Höhlen verneigten sich die Menschen vor dem großen, kosmischen Prinzip von Geburt, Leben und Tod, dem ewigen Wandel, von dem sie ein Teil waren. 

Doch nun veränderten sich die Dinge, mal langsam, mal schnell, aber unaufhaltsam. Die große Göttin in all ihren Aspekten wurde aufgespalten, reduktionistisch herabgesetzt. Nun gab es für jeden ihrer Aspekte eine eigene Göttin – Venus, Aphrodite, Freya als Verführerinnen, die Nornen oder Moiren als Schicksalsweberinnen, Demeter als Fruchtbarkeitsgöttin, Kali als Zerstörerin usw. usw. usw. 

Wenn wir also heute von den vielen Göttinnen sprechen, mit deren Aspekten wir uns identifizieren, dann unterwerfen wir uns im Grunde einem frühen, patriarchalen Konzept, das darauf abzielte, die große kosmische Mutter zu entmachten und durch einen himmlischen Vater zu ersetzen.

Die Mutter wurde in die Erde verbannt, als Lebensspenderin, aber auch als das Wilde, Tierhafte, das Dunkle. Der Mann wurde zur Sonne, zum Licht, zum Verstand, zur Kultur. Er wurde zum Licht, dem wir uns zuwenden und sie wurde zur Dunkelheit, die wir leugnen und verdrängen.


Es mag uns ganz natürlich erscheinen, dass wir uns diesen Göttinnen zuwenden, repräsentieren sie doch uns vertraute Aspekte unseres Alltags und unseres Erlebens, Athene, die von Zeus aus seinem Kopf heraus geboren wurde und für Unabhängigkeit und Stärke steht, Persephone, die ihrem Mann Hades in die Unterwelt folgt und nur das halbe Jahr bei ihrer Mutter Demeter in der Unterwelt sein kann, Inanna, die für eine weibliche Unterweltreise steht, und es ist gut, dass wir uns diesen Göttinnen wieder annähern, sozusagen rückwärts gehen in der Zeit. 

Doch wir dürfen bei ihnen nicht stehen bleiben, nur weil wir ihre Namen, Attribute und Mythen kennen, wir müssen weiter gehen, zum Ursprung, zurück zur großen kosmischen Mutter. Erst dann können wir heil werden, erst dann begreifen wir, wie groß der Verlust ist, der uns Frauen als Kollektiv angetan wurde.


Die antike Welt war für Frauen kein angenehmer Ort. Anders als noch im alten Babylonien oder im sumerischen Reich waren sie nun vollständig den Männern untertan, zuerst dem Vater, dann dem Ehemann. Die Strafen für Ehebruch von Frauen waren drastisch, Frauen selbst durften keinen Besitz haben und sollten möglichst als Jungfrauen in die Ehe gehen, damit der Vater und Ehemann ganz sicher sein konnte, dass es auch seine Nachkommen waren, die seinen Besitz erbten.

Kehren wir noch einmal zu der Jungsteinzeit zurück, um zu verstehen, wie es so weit kommen konnte. Der Mann als Bauer und später auch Viehzüchter trug nun zu den materiellen Grundlagen der Gruppe bei und das sollte sich auch im spirituellen Weltbild des Neolithikums niederschlagen.

Zwar finden wir zu jener Zeit noch eine reiche und intensive Verehrung von Göttinnen und ihren Zyklen, doch auch die »Heilige Hochzeit«. Die Göttin erhält nun einen Gefährten, den »gehörnten Gott«, wie wir ihn bei den Kelten finden. Er ist es, der sie befruchtet. Die Rolle des Männlichen wird aufgewertet, auf einmal zählt nicht mehr nur die Abstammung von der Mutter, sondern auch die vom Vater. Die »Heilige Hochzeit« ist die wirkliche Kulturrevolution im Leben der Menschen7 und daher müssen alle Kulturen, die diesen Aspekt beinhalten, etwa die bereits erwähnten Kelten, die Sumerer, die Phönizier, aber auch die Germanen bereits als patriarchal betrachtet werden, auch wenn sich in der Verehrung von starken Göttinnen und der nach wie vor mächtigen Position von Frauen in Form von Besitz, politischem Einfluss oder spiritueller Beratung noch Relikte der alten, ursprünglichen Ordnung finden lassen. Dennoch: Die Zeit der großen Göttin und damit des Friedens und des Lebens im Einklang mit der Natur war vorbei. 


Das Neolithikum ließ die Kunstfertigkeit von Frauen erblühen, als Weberinnen, Korbflechterinnen, Töpferinnen, doch zugleich war es auch der Anfang des Verschwindens der Göttin und der Unterdrückung der Frau. 

In der Bibel heißt es, Gott habe die Welt vor 6000 Jahren erschaffen und es ist wohl kein Zufall, dass genau zu jener Zeit auch die Entstehung des Patriarchats zu verordnen ist. Der Begriff »Patriarchat« geht auf die jüdischen »Patriarchen« zurück und bedeutet »Herrschaft der Väter«. Das Judentum als erste Schriftreligion schreibt Gott, den Vater, als strengen Gott fest, der von Frauen vor allem Unterordnung unter ihren Ehemann und das Gebären vieler Kinder erfordert. Die Frau ist nicht länger ein selbstbestimmtes, tragendes Mitglied ihrer Gemeinschaft, nicht länger getragen und gehalten durch den Kreis der Frauen aus ihrer Sippe, sondern sie verlässt ihre Muttersippe, um bei der Familie ihres Mannes zu leben und dort vor allem als Arbeitskraft für den Besitz des Mannes und als Hervorbringerin seiner Erben zu dienen. Von ihren Wurzeln getrennt, gibt es keine Zeiten des heiligen Rückzugs mehr, keinen Kontakt zur großen Mutter, sondern nur einen wütenden, frauenfeindlichen Gott, der Frauen ihr pures Sein übel nimmt und es als Bedrohung wahrnimmt. Untreue Frauen werden gesteinigt, verheiratete Frauen müssen ihr Haar bedecken, Frauen dürfen keinen eigenen Besitz haben und legen sogar ihren Namen ab. Sie werden zum Besitz, zum Anhängsel von Männern. 


Ganz allgemein wird uns diese brutale Unterwerfung von Frauen gern als der Anfang der Zivilisation verkauft, als das Ende der »wilden« Steinzeit und dem Anbeginn von Kultur. 

Im Übergang zu der Antike entstehen in der Gegend des fruchtbaren Halbmonds durch die Züchtung von Rindern, die vor allem Männer vorbehalten waren, im Laufe der Jahrhunderte große Stadtstaaten mit streng hierarchischem Aufbau. Ganz oben befinden sich die von den Göttern eingesetzten Herrscher, darunter Adelige und Kleriker, dann das gemeine Volk und schließlich die Sklaven.


Die imposanten Bauten jener Städte, ihr Reichtum und ihre ideologischen Grundlagen faszinieren viele noch heute. Der Mensch wird zum Unterwerfer der Welt und damit einher geht das bis heute fühlbare Gefühl einer Trennung, eines großen Verlusts, den wir Frauen vielleicht stärker fühlen als Männer, weil wir nach wie vor durch die Rhythmen unserer Körper mit der Großen Mutter verbunden sind.

Von der Gewalt, von dem Entsetzen, das mit jenen Umwälzungen einherging, wissen wir nichts. Es wurde, ebenso wie die Erinnerung an die Große Göttin, aus den Büchern getilgt, denn das Schreiben war den Männern vorbehalten. Sie entschieden, an was sich zukünftige Generationen erinnern sollten. Und so begann die große Lüge von der vermeintlich »natürlichen« Geschlechterordnung im Patriarchat, die auf dem Irrtum basiert, der Mann sei stark und die Unterordnung der Frau das Ergebnis ihrer Schwäche.

Die Stärke des Mannes ist seine Fähigkeit zur Gewalt und diese liegt seiner Macht bis heute zu Grunde. Wer viel besitzt und noch mehr besitzen möchte, der denkt bald auch darüber nach, anderen etwas wegzunehmen,  und das geht nur mit Gewalt. Da Frauen als Besitz betrachtet werden, liegt es nahe, auch sie zu rauben. 

Der Frauenraub ist die Grundlage der Sklaverei, aus der wiederum die Prostitution hervorging. Sklavinnen auch sexuell auszubeuten, lag nahe und sie an andere Männer zu verkaufen, brachte Geld. Die eigene Ehefrau war dem Zeugen von legitimen - also ehelichen – Nachfahren vorbehalten. 

Der Handel brachte Wohlstand für eine Oberschicht mit sich und trieb die kulturelle Entwicklung voran. Die Ursprünge der Schrift etwa gehen vor allem auf den Handel und das Zählen von Dingen zurück. Vorher war es üblich, alles Wissen mündlich weiterzugeben. Nun aber wurden Dinge »festgeschrieben«, unveränderlich gemacht und alles, was nicht aufgeschrieben wurde, verschwand oder wurde als nicht relevant betrachtet. Dazu gehörten vor allem die Geschichten der großen Mutter und ihren zahlreichen Emanationen in regionalen Göttinnen. Es waren die Männer, die das Schreiben erlernten und über Philosophie und Staatswesen nachdachten, während die Frauen zunehmend auf die Sphäre des Hauses verbannt wurden. Und es waren die Männer, die von nun an bestimmten, welche Informationen überliefert und so die große Erzählung vom Verlauf der Geschichte der Menschheit prägen sollten. 

Das Gilgamesch-Epos ist ein altes mesopotamisches Gedicht, das die Geschichte von Gilgamesch, einem Heldenkönig der Stadt Uruk, erzählt. Uruk war eine antike sumerische Stadt im heutigen Irak, in der Nähe des Euphrat-Flusses. Sie war eine der frühesten Städte der Welt und wurde um 4000 v. Chr. gegründet. Das Epos spielt um 2.000 v. Chr., wurde aber erst um 1100 v. Chr. aufgeschrieben8. Das Epos folgt Gilgameschs Abenteuern auf seiner Suche nach Unsterblichkeit, Ruhm und Macht. Er ist die Verkörperung, die Urfigur der männlichen Heldenreise, der Held, der auszieht, um zu erobern und zu herrschen.

Neben der Haupthandlung enthält das Epos auch viele Verweise auf Göttinnen wie Ishtar, die eine wichtige Rolle dabei spielt, Gilgamesch beim Erreichen seiner spirituellen Ziele zu helfen. Auch die Göttin Aruru taucht häufig in dem Epos auf. Ihr wird zugeschrieben, dass sie den Menschen aus Lehm erschuf, um Enkidu (einen wilden Mann) von seiner animalischen Natur zu befreien. 

Doch das Auftauchen dieser Göttinnen täuscht. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Heilige Hochzeit ein wichtiger Bestandteil der sumerischen Kultur, da sie eine spirituelle Verbindung zwischen Göttern und Menschen herstellte und gleichzeitig der Legitimierung politischer Autorität diente. 

Diese Ehe galt als von den Göttern gesegnet und sollte göttlichen Schutz und Fruchtbarkeit bringen. Die Heilige Hochzeit konnte auch als Teil von Krönungszeremonien für Könige oder Führer verwendet werden, um sie als Vertreter Gottes auf der Erde zu etablieren. 


Das Gilgamesch Epos stellt einen Wendepunkt dar, denn Gilgamesch vollzieht die Heilige Hochzeit, das Nebeneinander von Mann und Frau, von Gott und Göttin, nicht, sondern macht sich zum alleinigen Herrscher. Die Göttin Ishtar wird nur noch als promiske Hure hingestellt, die Männern schaden möchte. 

Ishtar war zuvor die Göttin der Liebe, des Krieges und der Fruchtbarkeit in der alten mesopotamischen Kultur. Sie war eine der wichtigsten Gottheiten im Pantheon und wurde manchmal als »Königin des Himmels« oder »Stern des Krieges« bezeichnet Ishtar galt als schön und mächtig, sie repräsentierte weibliche Stärke und Macht und verkörperte gleichzeitig leidenschaftliche Liebe. In der Literatur, z. B. im Gilgamesch-Epos, spielt Ishtar zwar eine wichtige Rolle, indem sie Gilgamesch hilft, seine spirituellen Ziele auf seiner Suche nach Unsterblichkeit zu erreichen, doch sie ist ihrer eigenen Göttlichkeit beraubt. Sie wird zur Dienerin des Mannes. 

Von der Königin des Himmels wird sie zur Helferin des Helden. Mit dem Gilgamesch Epos beginnt die klassische, männliche Heldenreise in der Literatur. Die große kosmische Mutter, sie wird mythologisch ermordet und unsichtbar gemacht, ihre Emanationen als regionale Göttinnen werden entmachtet und degradiert, zu Huren, Helferinnen, weisen Frauen oder Hexen, die nur noch im Verborgenen verehrt werden dürfen und deren Geschichten im Staub der Geschichte verloren gehen, weil es verboten ist, sie aufzuschreiben und sich an sie zu erinnern. 

Ungefähr zu dieser Zeit endet allerorten die bilineare Abstammung der Nachfahren, ab jetzt werden alle (ehelichen) Kinder allein der väterlichen Linie zugeordnet. 


Mit den alten Griechen betritt nun in Europa eine dezidiert frauenhassende Gesellschaft die Bühne der Geschichte, deren Gedanken in Form der misogynen Ansichten von Aristoteles nach wie vor die Kultur des europäischen Abendlandes der Gegenwart prägen, ohne je reflektiert oder hinterfragt worden zu sein.

Im antiken Griechenland und Rom war Misogynie weit verbreitet und tief in der Gesellschaft verankert9.


In der griechischen Mythologie wurde die Frau als zweitrangig angesehen und oft als »verführerisch« oder »hinterlistig« dargestellt, was sich auch in den Mythen über Göttinnen niederschlägt. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Geschichte von Pandora, die als Strafe für die Menschheit eine Büchse mit allen Übeln öffnete. Auch in der Philosophie spielte die Rolle der Frau eine untergeordnete Rolle. Zum Beispiel glaubte Aristoteles, dass Frauen weniger rational und weniger tugendhaft seien als Männer.


In Rom hatten Frauen ähnlich wie in Griechenland keine politische Macht und wurden oft als Objekte betrachtet. Frauen durften keine öffentlichen Ämter bekleiden und konnten auch kein eigenes Vermögen besitzen. Im römischen Rechtssystem hatten Männer das alleinige Sorgerecht für ihre Kinder und Frauen waren oft gezwungen, ihre Entscheidungen zu akzeptieren.

Ein weiteres Beispiel ist die Tatsache, dass im alten Rom Frauen oft als Sexobjekte betrachtet wurden und sexuelle Gewalt gegen Frauen weit verbreitet war. Sklavinnen wurden oft vergewaltigt und Prostitution war ein weit verbreitetes Geschäft. Insgesamt waren Frauen im antiken Griechenland und Rom oft Opfer von Diskriminierung und Unterdrückung.

Die Geschichtsbücher erzählen uns nichts von der großen Mutter und ihren Göttinnen. Die Geschichte der Menschheit beginnt mit dem Aufstieg des Mannes, mit seiner unrechtmäßigen und gewaltvollen Usurpation, die in kürzester Zeit jeden Lebensbereich durchdrang und dem Paradigma vom allmächtigen Mann unterordnete. Wir haben es hier mit nichts weniger als einer mächtigen Kolonisation des Bewusstseins zu tun, unter der wir Frauen bis heute leiden. 

Bald hatte das Jahr nicht mehr 13 Monate – Mondzyklen und Menstruationszyklen – sondern nur noch 12. Das verdanken wir dem Julianischen Kalender. 


Das Denken, das Bewusstsein, die Erinnerungen und vor allem die Körper von Frauen wurden kolonialisiert und unterworfen und jede Erinnerung daran, wie die Dinge einst waren, ausgelöscht. Nichts sollte mehr an die einstige Macht der großen Mutter und der Göttinnen erinnern, die ihre Macht nicht aus Gewalt über andere Menschen, sondern aus ihrer tiefen Verbindung mit der natürlichen Ordnung zogen. 

Die Bibel als patriarchale Schriftreligion vollzog die endgültige Verdammung der Göttin. Gott, der Vater, ist es nun, der die Welt erschafft, und zwar in sieben Tagen. Dass Männer kein neues Leben in die Welt bringen können, wurde elegant mit der Erfindung des unklar definierten Heiligen Geists umgangen, der Gott hilft, das Leben zu erschaffen. 

Die Frau ist nun nur noch das Gefäß des Mannes, das Recht, sie zu züchtigen, ist in der Bibel festgeschrieben. Nur der Mann ist Gott, dem Vater gleich, einem distanzierten, im Alten Testament strafenden und wütenden Gott, der die Sintflut schickt oder die sprachliche Verwirrung nach dem Turmbau zu Babel.

Die liebende, nährende Göttin ist verschwunden, auch der Glaube an eine ewige Wiederkehr. 

Stattdessen geht es nun um das ewige Leben in einem erfundenen Himmelreich, in das aber nur jene eingehen, die nach Gottes Gesetzen leben. 

Die Frauen gelten als sündhaft und ab dem christlichen Mittelalter zunehmend auch als Gespielinnen des Teufels, als das Einfallstor des Bösen in die Welt, als durchtriebene Verhindererinnen des Reichs Gottes auf Erden. Die Welt ist nunmehr ein Jammertal, dass es als Strafe für den durch die Frau herbeigeführten Sündenfall zu erdulden gilt. 


Die Hexenverfolgung der europäischen Neuzeit hat hier ihre Wurzeln, sie kann auf psychologischer Ebene aber auch als eine Abwehr des diffusen Schuldgefühls betrachtet werden, das Männer beim Anblick von Frauen empfanden. Auf einer tieferen Ebene der Wahrnehmung ist es unvermeidbar, zu erkennen, dass das, was als »gottgegeben« und unveränderlich definiert wurde, allen Vorbildern der Natur und auch dem inneren Erleben völlig zuwiderlief, und um diesen Konflikt auszuhalten, wurde er auf andere projiziert. Damit werden wir uns in Kapitel 11 noch einmal aus verschiedenen Blickwinkeln beschäftigen. 

Auch das Neue Testament, das maßgeblich von Paulus gestaltet wurde, strotzt nur so vor Misogynie. Ob Jesus all das so wirklich gedacht und gesagt hat, wissen wir nicht, doch anhand der starken Stellung der Frauen im Urchristentum ist anzunehmen, dass es selbstverständlich unter seinen Jüngern auch Frauen gab, bevor sie von dem eifersüchtigen Paulus aus der Überlieferung getilgt wurden. 


Nag Hammadi ist eine Sammlung von über fünfzig antiken Texten, die 1945 in der Nähe der ägyptischen Stadt Nag Hammadi entdeckt wurden. Die Manuskripte enthalten nicht-kanonische christliche Schriften aus dem 2. Jahrhundert, die von orthodoxen Christen als häretisch angesehen wurden. Zu diesen Texten gehören die gnostischen Evangelien, die Lehren und Offenbarungen enthalten, die Jesus zugeschrieben werden. Darüber hinaus enthalten die Manuskripte auch verschiedene andere Werke, wie theologische Abhandlungen, philosophische Überlegungen und Geschichten über Adam und Eva. Das Nag Hammadi bietet einen einzigartigen Einblick in das antike Christentum und seine Beziehung zur griechisch-römischen Philosophie sowie unschätzbare Informationen über frühchristliche Glaubensvorstellungen und Praktiken.

Die christliche Gnosis umfasst Glaubensvorstellungen, Lehren und esoterische religiöse Traditionen, die von den orthodoxen christlichen Lehren abweichen. 

Die gnostischen Schriften, vor allem die in den Nag Hammadi-Codices, betonen mystische Erfahrungen und den direkten Zugang zu göttlichem Wissen. Sie konzentrieren sich auch auf die innere Reise der individuellen spirituellen Transformation und nicht auf die Teilnahme an äußeren Riten oder Ritualen. Die Gnosis legt den Schwerpunkt auf das menschliche Potenzial zur Erleuchtung durch Kontemplation und Selbstreflexion. Diese Form des Christentums zielt darauf ab, eine tiefere Beziehung zu Gott herzustellen, indem wir unsere wahre Natur als Kinder Gottes verstehen. Daher wird sie oft als spirituellere Herangehensweise an das Ausleben des eigenen Glaubens angesehen als die traditionellen Formen des Christentums.

Im Nag Hammadi ist von verschiedenen Göttinnen die Rede, die zunächst wichtigste ist die dreifaltige Protennoia, die mit der großem Mutter gleichzusetzen ist. Sie ist es, die vom Himmel hinabstieg, um den Menschen Erlösung zu bringen10. Hier, in diesen verschollenen Texten der Bibel, die den Urchristen noch wohlbekannt waren, finden wir sie noch, die große kosmische Mutter. 


Man kann in diesem Text den Paradigmenwechsel hin von der gebärenden, lebensspendenden Mutter hin zum schöpfenden Gott nachvollziehen. Sophia, die Göttin der Weisheit, die Kraft des bewussten, lebendigen Kosmos, begeht einen vermeintlichen »Fehler« und bringt Barbelo, ein Zwitterwesen zur Welt, was den Lauf der Welt verändert und stürzt so die Menschheit in das Unglück. Die Geschichte ist in sich nicht schlüssig und strotzt vor Widersprüchen. Sie zeigt, welche Mühe es die Intellektuellen jener Zeit gekostet haben muss, die Abkehr von den um die Jahrtausendwende noch lebendigen Mysterienkulte um die Göttinnen herum hin zu einem abstrakten, männlichen, göttlichen Prinzip zu schaffen, hinter dem die Göttin und große Mutter verschwindet. 


Trotzdem ist in den Schriften des Nag Hammadi deutlich erkennbar, wie das Weltbild jener Zeit ausgesehen hat und dass das Bewusstsein für die Existenz des weiblichen Ursprungs der Welt sehr wohl noch vorhanden war.

Vermutlich ist das der Grund, weshalb die Väter der Bibel diesen Teil der Überlieferung aus der Bibel ausschlossen – ein anderer ist, dass die Gnostiker sich in der christlichen Tradition nicht durchsetzen konnten und schließlich als Abtrünnige geschasst wurden. Deshalb wurden alle Spuren, die sie in der christlichen Lehre hinterlassen konnten, später ausgelöscht. 

Mit dem Christentum tritt eine Wende ein, die durch die patriarchalen Kriegerkulturen der Sumerer und Babylonier vorbereitet wurde. Im Judentum spielt die Frau bereits eine stark untergeordnete Rolle, die durch die schriftliche Fixierung und den Monotheismus eines männlichen Vatergottes unveränderlich als Teil der Tradition betrachtet wird.

Das Christentum greift diesen Gedanken auf und entwickelt ihn weiter. Aus einem inklusiven Verständnis der Religion, das wir im antiken Rom und Griechenland noch finden – jeder konnte für sich selbst entscheiden, welche Götter und Göttinnen er verehrte, das galt sogar für die den Römern unterworfenen Regionen – wird nun ein exklusives. 


Gott darf nicht in Frage gestellt werden, nicht einmal ein Bild dürfen wir uns von ihm machen (weil das vermutlich weitere Fragen aufwerfen würde), sein Wille und sein Handeln sind unergründlich. 

Was in der Bibel steht, ist Gesetz und die Frau, einst kultisch verehrt als Repräsentantin der großen Mutter und Spenderin des Lebens, wird nun zum Einfallstor des Bösen, der Sünde und als solche verdammt. Während der folgenden Jahrhunderte steht sie unter einem Generalverdacht, misstrauisch beäugt von den Kirchenvätern. Es ist ihre natürliche – biologische – Nähe zur Natur, der man misstraut. 

Ihr Zyklus und damit die zyklische Natur ihres Bewusstseins sind eine erlebte Wahrheit, die es mit aller Kraft so lange zu leugnen gilt, bis sie selbst nicht mehr an sich glaubt und ihre untergeordnete Stellung akzeptiert. 

Dazu braucht es nicht weniger als die Erfindung des Bösen. Die Dichotomie von Gut und Böse ist eine Erfindung des Patriarchats. Die Natur kennt kein Gut und Böse, doch nur mit diesem psychologischen Trick, einer Trennung, die nach wie vor in unseren Köpfen existiert. 

Wir finden diese Idee zum ersten Mal im Zoroastrismus, in der Gott einen Widersacher hat, so wie jeder Mensch den Stachel des Teufels in sich trägt. Die Welt im ewigen Kampf zwischen Licht und Finsternis, zwischen Dämonen und Engeln, jede Seele eines Menschen ein Schlachtfeld jener Kräfte, das ist das Weltbild des Mittelalters – und des europäischen Patriarchats. 

Die Aufteilung in »gut« und »böse« ist weder natürlich noch naheliegend, sie ist wie eine Brille, die wir aufsetzen, ein Wahrnehmungsfilter, der dafür sorgt, dass wir auch uns selbst in »gute« und »böse« Anteile aufspalten, so dass wir Teile unseres Selbst verdammen. 


Die Göttin, die große kosmische Mutter, die vielen Göttinnen, von denen wir einige im folgenden Kapitel kennenlernen werden, verdammten nicht, sie luden uns ein, jeden Aspekt unserer Existenz zu erkunden und Erfahrungen zu sammeln. Das gilt auch für die bereits unter patriarchalen Vorzeichen geprägten Mythen rund um die griechischen, germanischen oder keltischen Göttinnen, in denen die Erinnerung an die alte Zeit noch lebendig war. 


Aus der Höhle, dem jahrtausendealten, heiligen Kultort, wurde die Hölle, in der die Seelen der Verdammten gemartert wurden als Strafen für ihre Sünden. 

Luzifer, der Lichtbringer, dem Repräsentanten des freien Willens und der Selbstermächtigung, als Verkörperung von Lust als Quelle allen Lebens, aus der die Kirche nun die schlimmste Sünde von allen machte, reichte das heuchlerische Possenspiel im Himmel, weshalb er zur Erde hinabstürzte und lieber in der Hölle regierte, als ein Engel an Gottes Seite zu sein. 

Die alten, heidnischen Religionen der Kelten und Germanen wurden durch das Christentum mit brutaler Gewalt ausgelöscht und damit auch die Erinnerungen an die Göttinnen. Maria, die Mutter Gottes, ist nur eine Heilige, keine Göttin, obwohl die inbrünstige Marienverehrung, etwa in Kroatien oder Südamerika, tieferliegende Relikte der kollektiven Erinnerung an die große Göttin erkennen lassen. In den als besonders wundertätig geltenden Darstellungen der »Schwarzen Madonna«, die sich überall in Europa finden, erkennen wir eine der uralten Farben der Göttin.11


Doch im Volksglauben blieb vieles über die Jahrhunderte des frühen Mittelalters lebendig, geduldet von der Kirche, die über viele der heiligen Orte einfach Kirchen baute. Die Volksmagie wurde geduldet, weil man sie als harmlos empfand.

Das änderte sich gegen Ende des Mittelalters, als die Kirche mit all ihrer weltlichen Macht, ihrem Prunk und ihren ganz und gar nicht heiligen Statthaltern immer mehr Kritik ausgesetzt wurde, etwa durch die Bewegungen der Katharer und Waldenser, die als Ketzer verdammt und hingerichtet wurden. Eine Gewaltwelle folgte auf die nächste, denn nun waren die Frauen an der Reihe, die traditionell als Hebammen – sowohl des Lebens als auch des Todes – ganz dicht dran waren an den natürlichen Zyklen des Seins. 

Als Kräuterkundige und Heilende waren sie in ihren Gemeinschaften jene, bei denen Rat gesucht wurde, nicht nur bei körperlichen Beschwerden. Damit machten sie den Priestern der Kirche mehr und mehr Konkurrenz. 

Ganz grundsätzlich aber ging es vor allem um Machterhalt. Indem die Gelehrten der Kirche von einer weltweiten, teuflischen Verschwörung fantasierten, deren Anhänger vor allem weiblich waren, schürten sie tiefsitzende Ängste, die sehr reale Auswirkungen hatten. Für die Menschen jener Zeit war der Teufel nichts metaphorisches, sondern Teil der materiellen Wirklichkeit. Dabei nutzten sie den Umstand, dass viele heidnische Traditionen nach wie vor lebendig waren, wie etwa das Feiern von heidnischen Jahresfesten in der Walpurgisnacht. Sie säten ein tiefes Misstrauen innerhalb der engen, dörflichen Gemeinschaften und das zu einer Zeit, in der sie als einzige Schriftgelehrte den öffentlichen Diskurs nahezu vollständig dominierten. 

In den Folterprotokollen der Inquisitoren ist die sadistische Lust am Misshandeln des weiblichen Körpers, eine Verkehrung der ursprünglichen Verehrung der Weiblichkeit, deutlich erkennbar, von der es eine direkte Kontinuität zu den heute populären Bilder der Pornografie gibt. 

In einer bösartigen Lesart wurden Frauen so zu willfährigen Gehilfinnen des Bösen, in einer wohlwollenderen schrieb man ihnen bestimmte Attribute zu wie Empfindsamkeit statt Intellektualität, Wankelmütigkeit, mangelnde Impulskontrolle, Promiskuität und die rationalen Fähigkeiten eines Kindes. 

Das hat Folgen – bis heute. Charles Darwin, dem wir doch angeblich die Befreiung von dem christlichen Weltbild und der göttlichen Schöpfung verdanken, war sich sicher, dass die Überlegenheit der Männer natürlich war und Frauen in der Evolution keine große Rolle spielten12.

Dabei hätte er, der Wissenschaftler, nur genauer hinsehen müssen. Die Natur kennt keine Widersprüche, so wie GOTT DIE MUTTER nichts ablehnt, nicht einmal die von den Männern ausgeübte Gewalt.

Wenn wir einen Blick auf die Tierwelt und vor allem auf andere Säugetiere werfen, dann finden wir dort überall die sogenannte »female choice«, die Wahl des Partners durch das Weibchen13.

Die weibliche Wahl ist ein Konzept, das besagt, dass Frauen eine größere Kontrolle über den Fortpflanzungsprozess haben als Männer. Diesem Prinzip liegt die Vorstellung zugrunde, dass Frauen bei der Wahl ihrer Partner selektiver vorgehen, weil sie biologisch gesehen mehr in ihre Nachkommen investieren, während Männer ihren »Samen« ohne größere Risiken oder Konsequenzen verbreiten können. Es wird daher angenommen, dass Weibchen dazu neigen, Partner mit hochwertigeren Genen und besseren Ressourcen für sich und ihre Kinder zu wählen. Bei einigen Arten kann dieser Auswahlprozess ein aufwändiges Balzritual beinhalten, bei dem das Männchen eine Vielzahl von Aktivitäten durchführt, um seine Eignung als Partner zu demonstrieren. Letztendlich entscheidet das Weibchen, ob diese Eigenschaften ihren Kriterien für den idealen Fortpflanzungspartner entsprechen. Außerdem ist es auch, dass Weibchen strategischen Ehebruch begehen können, indem sie sich mit mehreren Partnern paaren, um die Vielfalt des genetischen Materials für ihre Nachkommen zu erhöhen. Diese Praxis ist vor allem bei Arten verbreitet, bei denen die Männchen während der Trächtigkeit und Aufzucht Ressourcen oder Schutz bieten. Durch die Vergrößerung ihres Partnerpools haben die Weibchen Zugang zu vielfältigeren Genen und erhöhen damit die Chancen, dass ihre Nachkommen gut angepasst und erfolgreich sind.  Letztendlich ist das Verständnis der weiblichen Partnerwahl von entscheidender Bedeutung, um zu verstehen, wie der evolutionäre Druck das Fortpflanzungsverhalten bei einer bestimmten Art beeinflusst. Durch eine sorgfältige Untersuchung dieses Phänomens können Wissenschaftler Einblicke in die Funktionsweise der sexuellen Selektion innerhalb einer Art gewinnen und herausfinden, welche Merkmale durch die Wahl der Weibchen begünstigt werden.

Das Konzept der weiblichen Wahl wurde bei vielen verschiedenen Arten eingehend untersucht, von wirbellosen Tieren wie Fliegen bis hin zu Säugetieren wie z. B. Primaten. Die Forschung hat gezeigt, dass die Wahl des Weibchens ein Schlüsselfaktor für den Fortpflanzungserfolg vieler Arten ist und sogar die Populationsdynamik im Laufe der Zeit beeinflussen kann. Darüber hinaus wurde dieses Konzept auch als Erklärung dafür herangezogen, warum sich bestimmte Merkmale bei einigen Arten entwickelt haben, bei anderen jedoch nicht. Wenn die Forscher verstehen, wie die Weibchen ihre Partnerwahl treffen, können sie wertvolle Erkenntnisse über die evolutionären Prozesse innerhalb einer bestimmten Art gewinnen. 

Weibchen wählen aus, mit wem sie sich paaren, weil sie biologisch in ihre Nachkommenschaft investieren, was dazu führt, dass sie sich für Partner mit hochwertigeren Genen entscheiden, die ihren Nachkommen in freier Wildbahn einen Vorteil verschaffen. Außerdem hat die Forschung haben gezeigt, dass die Wahl des Weibchens die genetische Zusammensetzung einer Art im Laufe der Zeit beeinflussen kann, was sie zu einem unschätzbaren Instrument für die Untersuchung evolutionärer Prozesse macht. Daher ist das Verständnis dieses Konzepts von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, Erkenntnisse über die sexuelle Selektion und die Evolution bei Tieren zu gewinnen.

Erst vor kurzem fanden Forscher heraus, dass die menschliche Eizelle aktiv auswählt, welche Spermien von welchem Mann zur Befruchtung durchgelassen werden14. Die »female choice« ist also Teil unserer menschlichen Biologie und wurde durch die patriarchale Gewalt über den Haufen geworfen. 

Der Teufel übrigens wurde, vermutlich ungewollt, zum Verbündeten der Frauen, nachdem die schrecklichen Hexenverbrennungen endeten.

In seinem Buch »Satanic Feminism: Lucifer as the Liberator of Woman in Nineteenth-Century Culture«15 beschreibt Per Faxneld die historische Entwicklung von feministischen Bewegungen, die sich auf Luzifer als Symbol der Freiheit und Emanzipation bezogen. Die wichtigsten Aussagen aus dem Buch sind:

Luzifer als Symbol wurde von feministischen Bewegungen im 19. Jahrhundert verwendet, um gegen die Unterdrückung von Frauen zu kämpfen.

Die Verwendung von Luzifer als Symbol des Widerstands erlaubte es Frauen, sich von patriarchalen Strukturen zu befreien und ihre eigene Macht zu entdecken.

Die frühen Feministinnen des 19. Jahrhunderts glaubten, dass Luzifer nicht der Feind Gottes, sondern ein Befreier sei, der Frauen die Möglichkeit bietet, sich von Unterdrückung und Beschränkungen zu befreien.

Die Verwendung von luziferischen Symboliken und Ritualen gab Frauen eine neue Art von spiritueller Macht, die sie nutzen konnten, um ihre eigene Emanzipation voranzutreiben.

Der Einsatz von satanischen Ritualen und Symbolen wurde auch von anderen Gruppen genutzt, wie z.B. den Surrealisten und anderen Künstlern, um ihre eigene Rebellion gegen die herrschenden Ordnungen auszudrücken.

Ein Beispiel ist die Verwendung von satanischen Symbolen in der feministischen Kunst des 20. Jahrhunderts, wie z.B. in den Werken von Künstlerinnen wie Judy Chicago und Carolee Schneemann.


Was hier in wenigen Worten abgehandelt wurde, ist eine jahrtausendealte Geschichte der Gewalt und Unterdrückung. Es ist die Geschichte unseres kollektiven Traumas als Frauen, das große Vergessen. 

Aufgrund seiner Widernatürlichkeit braucht das Patriarchat die Gewalt, um sich seine Macht zu sichern. Diese Gewalt richtete sich gegen andere Völker, doch in erster Linie gegen die Frauen. Frauen wurden zu Besitz, sie wurden gedemütigt, vergewaltigt, ermordet, wie Vieh behandelt, entrechtet, allein gelassen.

Wir können uns die Einsamkeit, die Verzweiflung, die Angst kaum vorstellen, denen viele Frauen vor uns ausgesetzt waren, und das seit über 7.000 Jahren. 


7.000 Jahre patriarchale Gewalt – es lässt sich nur erahnen, wie viele Opfer sie hervorgebracht hat. Ihre Namen sind vergessen, ihre Geschichten, die Opfer, die sie brachten, damit ihre Kinder und ihre Töchter überlebten. 

Es waren ihre Kinder, die als Unterpfand benutzt wurden, ein Trick, den das Patriarchat bis heute anwendet, wenn wir uns anschauen, wie im Familienrecht mit alleinstehenden oder getrennten Müttern umgegangen wird. Das Recht des Vaters auf seine Nachkommen steht über allem. 


Es waren die Kinder, die dazu führten, dass die Mütter sich fügten, sich unterordneten. Selbst in dieser existenziellen Bedrohung entschieden sie sich für den Frieden, für die Familie, während die Männer diese Zugeständnisse nutzten, um noch mehr Macht und noch mehr Möglichkeiten zur Gewalt an sich zu reißen. Bis heute leiden Frauen und Kinder überall auf der Welt unter brutaler, patriarchaler Gewalt und obwohl wir im Westen so stolz sind auf Menschenrechte, Freiheit und Demokratie nehmen wir diesen Umstand einfach hin, erklären das Leid von Millionen von Frauen weltweit schulterzuckend mit »kulturellen Unterschieden«. Frauenhass ist keine Kultur, Frauenhass ist Gewalt. Er zielt direkt auf das Herz unseres Seins, den Kern unserer Menschlichkeit. Gewalt gegen Frauen ist Gewalt gegen uns alle. 

Nirgendwo finden wir ein Denkmal, eine Anerkennung oder auch nur ein vages Bewusstsein für das, was mit dem Verschwinden der großen Mutter einhergeht. Es ist der Verlust unserer Heimat, unserer Einheit mit der Natur und dem Kosmos, einer Welt, in der das weibliche Prinzip heilig ist und respektiert wird, nicht missachtet, ausgebeutet und misshandelt. 

Es ist ein tiefes, tiefes Trauma, das in jeder von uns lebendig ist, ohne, dass wir uns daran erinnern können, ohne, dass wir Worte, Namen und Geschichten haben, um darüber zu sprechen. 


Wenn darüber gesprochen wird, wieso das Patriarchat sich etablieren konnte, dann wird manchmal vorgetragen, dass die Frauen zuvor die ersten Grausamkeiten begingen. Von Menschenopfern ist die Rede, von denen etwa in griechischen Überlieferungen berichtet wird. 

Doch bei näherem Hinsehen handelt es sich bei diesen Berichten um nichts anderes als patriarchale Propaganda16. Nichts deutet darauf hin, dass es diese Menschenopfer wirklich gegeben hat, im Gegenteil, das Opfer in Form von Blutvergießen ist eine patriarchale Erfindung, mit der das weibliche Menstruationsblut als Symbol der Fruchtbarkeit imitiert werden soll. Leben für Leben – die Idee des quid pro quo ist patriarchal, denn die große Mutter muss kein Leben nehmen, um ein neues zu schenken, ihre Fülle und ihr Segen sind unendlich, kein Tauschgeschäft. 


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Endnoten:


1 Armbruster, Kirsten (2021): Patriarchatskritik. BoD. 


2 Ebda. 


3 Dean Snow (Pennsylvania State University, University Park), American Antiquity, doi: 10.7183/0002-7316.78.4.746, abgerufen am 16.05.2023. 


4 Bott, Gerhard (2009): Die Erfindung der Götter. Essay zur politischen Theologie, Band 1. BoD, S. 133. 


5 Löffelmann, Monika (1997): Erdställe und ihre Bedeutung in Kult, Religionsgeschichte, Überlieferung. Arbeitskreis für Erdstallforschung, S. 19. 


6 James, Edwin O. (2003): Der Kult der großen Göttin. Mit einem Vorwort von Kurt Derungus. (Englische Originalausgabe von 1959). edition amalia, S. 12ff.


7 Bott, Gerhard (2009): Die Erfindung der Götter. Essay zur politischen Theologie, Band 1. BoD,  S. 163-208. 


8 Ebda., S. 176. 


9 Holland, Jack (2006): A Brief History of Misogyny. The World’s Oldest Prejudice. Robinson, S. 36. 


10 Weidmann, Birgit (2019): Die verlorene Göttin. Geschichte der Spiritualität Band II und III. Gnosis, Früh-Christentum, Tempelkultur und germanisches Heidentum. Tredition, S. 94 ff. 


11 van der Meer, Annine E.G. (2020): The Black Madonna from Primal to Final Times: The Mother of Darkness and Light. Included is a list of short descriptions of 450 Black Madonna’s in France. Pansophia Press. 


12 Saini, Angela (2017): Inferior: How Science Got Women Wrong-and the New Research That’s Rewriting the Story. Beacon Press. 


13 Stoverock, Meike (2021): Female Choice: Vom Anfang und Ende der männlichen Zivilisation. Tropen Verlag. 


14 https://www.spektrum.de/news/auch-eizellen-sind-waehlerisch/1743096, abgerufen am 18.05.2023. 


15 Vaxneld, Per (2017): »Satanic Feminism: Lucifer as the Liberator of Woman in Nineteenth-Century Culture. Oxford University Press. 


16 Bott, Gerhard (2009): Die Erfindung der Götter. Essay zur politischen Theologie, Band 1. BoD, S. 473. 

Hekate - die wandelbare Göttin der Wirklichkeit


Hekate ist eine erstaunliche Göttin, deren Anfänge bis weit in die Geschichte zurückreichen und die bis heute lebendig ist. Wir kennen sie als ägyptische und griechische Göttin mit polymorpher, also vielfältiger Gestalt. Häufig wird sie mit drei Köpfen abgebildet, einer jungen Frau, einer schwangeren Frau und einer alten Frau. Begleitet wird sie oft von großen schwarzen Hunden, sie trägt Fackeln in ihrer Hand und an ihrem Gürtel hängt ein Schlüssel. 

Sie ist eine der ältesten und lebendigsten Göttinnen, die wir kennen, mit einer Vielfalt an Bedeutungen und Zuschreibungen. Sie ist nachweisbar in Ägypten, lange vor der Zeit der Pharaonen. Dort galt sie als weise Frau, die der hekau oder »mütterlichen Worte der Kraft«1 mächtig war. 


In Griechenland verkörperte sie die Trinität von Himmel, Menschenwelt und Unterwelt. Früher glaubte man nämlich, die Sonne würde während der Nacht durch die Unterwelt reisen, so dass die Sonnengöttin zugleich auch die Göttin der Unterwelt war. 


Die Bedeutungen der Hekate sind so vielfältig, dass man damit viele Bücher füllen könnte. Heute gilt sie als Göttin der Hexen, weil sie als solche in vielen christlichen Schriften beschrieben wird. Sie soll Unheil bringen und mit ihrem Gefolge während der Neumondnächte durch die Straßen jagen. Zu ihrem Gefolge gehören die Toten, allen voran die toten Kinder. Das ist ein Hinweis auf ihre ursprüngliche Funktion, in der sie lebensspendend und nährend beschrieben wurde. Die griechischen »Hekatomben« beschreiben riesige Opferfeste, die zu ihren Ehren abgehalten wurden, vor allem in der Frühzeit des griechischen Reiches. Später wurden aus dem Hekatomben unheilvolle Ereignisse, denen viele Menschen zum Opfer fielen.


Es ist Hekate, die das Klagen der Göttin Demeter erhöhrt, als diese ihre Tochter Persephone sucht. Hekate begleitet Demeter in die Unterwelt, was eine ihrer wichtigsten Funktionen ist. Mit ihren Schlüsseln kann sie sowohl den Himmel aufschließen als auch die Dunkelheit. Sie ist die Göttin der Orakel und der Seherinnen. 

Sie ist die Patronin der Hebammen und der Gebärenden. 


Sie ist die Fackelträgerin, die jenen, die den Mut haben, sich in die Dunkelheit der Unterwelt zu begegnen, Licht spendet. Sie ist zugleich die Herrin des Liminalen, der Grenzbereiche menschlichen Seins zwischen Leben und Tod. Sie lädt uns ein, über das Gewohnte, Vertraute, hinauszugehen und uns dem zu stellen, was uns Angst macht.

Ihr Zeichen, das Rad der Hekate, steht für den bewussten Wechsel der Bewusstseinszustände.

Sie ist eine Hüterin der Frauen, jungfräulich und unvermählt, zaubermächtig und kräuterkundig. 

Sie wirkt im Verborgenen und in der Dunkelheit, doch sie ist sehr machtvoll. Überall auf der Welt verehren Frauen Hekate und errichten ihr zu Ehren Schreine und Altäre.

Sie ist die Wächterin der Wegkreuzungen und wurde in alter Zeit vor allem dort verehrt, wo sich drei Wege kreuzen. 


Sie findet sich im Kampf mit einem Riesen auf dem Altar von Pergamon und ist in ihrer Wandlungsfähigkeit ein sehr vitales Relikt vorpatriarchaler Zeit, wo sie als Erd- und Sonnengöttin, als Verkörperung von Bewusstsein an sich und als die Weltseele betrachtet werden kann.

Folgt man der Gnosis, so ist Hekate nichts anderes als der Heilige Geist, der nicht nur Leben, sondern auch Bewusstsein spendet. Sie hat nicht nur eine Verbindung zu Sonne und Erde, sondern auch zum Mond und seinem Wandel. 

Heute bringt man sie mit höllischen Geistern, Nekromantie und dem Bösen in Verbindung, eine bewusste Dämonisierung durch das Christentum, das Hekates Macht und Wandelbarkeit fürchtete. 

Im antiken Griechenland nutzte man sie eher zur Abwehr derselben, so baute man Säulen, die man »hekataia« nannte, an Kreuzen und Türen, um das Böse fernzuhalten. 


Der Monat, in dem sie verehrt wurde, ist der August und es gibt verschiedene Kräuter wie Beifuß oder Tollkirsche, die mit ihr in Verbindung gebracht werden. 


Hekate nimmt unter allen Göttinnen eine besondere Bedeutung ein. Das liegt vor allem daran, dass so viele Frauen überall auf der Welt von Erweckungserfahrungen erzählen, in denen Hekate eine große Rolle spielt. All diese Frauen erleben eine tiefgreifende Krise vollkommener Verzweiflung und werden auf einmal einer dunklen, aber nährenden und mütterlichen Energie gewahr, die bei ihnen ist und ihnen hilft, diese Krise zu überleben. Sie alle beschreiben diese Energie übereinstimmend als Hekate, mit der sie sich fortan verbunden fühlen.


In der Deutung dieser Erfahrungen heißt es, dass es sich dabei um Abwehrreaktionen handelt. Diese Frauen seien durch den ausbleibenden Erfolg des Feminismus enttäuscht und wendeten sich deshalb einer Art dunklen Muttergottheit in ihrem Inneren zu, um die permanente Dissonanz zwischen ihrem eigenen Erleben und der nach wie vor patriarchal geprägten Außenwelt auszuhalten. Kurz gesagt: Anhängerinnen der Hekate seien eigentlich alle enttäuschte Feministinnen. Das liest sich nach einer sehr einleuchtenden Erklärung, die leider viel zu kurz greift.

Um zu verstehen, was oder wer Hekate wirklich ist und warum so viele ihren Ruf spüren, müssen wir uns mit der Bibel beschäftigen oder konkreter mit jenen biblischer Schriften, die nicht zur Bibel gehören, dem »Nag Hammadi«.


Es handelt sich dabei um frühchristliche Schriften, die erst 1945 in der Nähe des ägyptischen Ortes Nag Hammadi gefunden wurden und die die lange unbeachtete und zum Teil auch vergessene Geschichte der Gnosis erzählen, die zu Zeiten, als man sich daran machte, das Neue Testament aufzuschreiben, aber höchst lebendig war. Gnosis bedeutet »Erkenntnis« und beschreibt einen inzwischen im Christentum verpönten Weg der Gotteserkenntnis, der zu Zeiten von Jesus sehr viele Anhänger hatte. Es handelt sich dabei um religiöses Wissen, das aus einer unmittelbaren Erfahrbarkeit heraus entsteht. Das bedeutet, Gott oder die Göttin offenbart sich dem Glaubenden durch sichtbare Zeichen. Die wahre Natur der Göttin und der Welt kann erkannt werden. Diese Erfahrungen lassen sich leicht als unmittelbare Gotteserfahrungen während transzendenter Zustände erkennen. Die Göttin oder Gott ist nichts, woran man glauben muss, sondern etwas, das erfahren worden ist und deshalb ohne Zweifel als real betrachtet wird. 


Die christliche Gnosis beschreibt, dass es eine oberste, über allem stehende Gottheit gibt, die sich in unzähligen Emanationen (Gottheiten) ausbreitet und die Welt erfüllt. Die Menschen sind von dem Zugang zu ihr durch das Handeln eines Demiurgs abgetrennt, einer bösen Kraft, die sich als Gott ausgibt und uns Menschen und unsere Seelen in einer Art sklavenähnlichen Bewusstseinsgefangenschaft hält. 

Die vorchristliche Gnosis glaubt an eine große Muttergöttin, die sich zu Beginn eines jeden Jahres mit einem Gott vermählt, der am Ende des Jahres aber sterben muss. Der Zugang zu dieser Göttin ist unmittelbar, es gibt magische Worte, die ihre Kraft auf die Erde holen und eine Verbindung schaffen. Die Eleusinischen Rituale zu Ehren der Demeter stehen in dieser Tradition.


Die gnostischen Christen glaubten an eine Göttin namens Sige (»Stille«), die am Anfang aller Dinge war, das große Runde, von dem wir alle abstammen. Ihre Tochter ist Sophia (»Weisheit«), die Urmutter aller Menschen, zugleich aber auch das 1. Kind. Wir erahnen hier schon die Spuren der christlichen Dreifaltigkeit. Hekate tritt als Weltseele, als Heiliger Geist hinzu. Es gibt aus dem antiken Griechenland überlieferte Orakelsprüche Hekates zu Jesus Christus, den sie als wichtigen und frommen Mann und Verkünder des Monotheismus erklärt, aber nicht als Propheten oder Sohn Gottes. 


Die Vorstellung eines göttlichen Weiblichen war den frühen Christen höchst suspekt, weswegen die christlichen Gnostiker ab dem 4. Jahrhundert auf das Stärkste verfolgt wurden und alle Spuren gnostischen Christentums aus der Bibel getilgt wurden.

Viele Anhänger der Hekate berufen sich deshalb auf die Gnosis und beschreiben ihre Erfahrungen mit ihr als gnostisch.


Für uns bedeutet das, dass Hekate als Göttin tatsächlich direkt erfahrbar ist. Sie kommt zu uns im Moment der größten Krise und offenbart sich uns. Psychologisch und neurobiologisch ist das durchaus erklärbar: Großer Stress, Kummer und Schmerz können unsere Bewusstseinszustände verändern. Körpereigene Botenstoffe sorgen dafür, dass sich die Verbindung zwischen uns und unserem Körper oder uns und der Realität löst und wir einer anderen Wirklichkeit gewahr werden, jener transzendenten Wirklichkeit des kollektiven Unbewussten und der Sphäre des Göttlichen. Das macht Hekate zu der perfekten Begleiterin durch krisenhafte Zustände, durch dunkle und problematische Lebensphasen und bei der Erkundung transzendenter Zustände. Hekate ist real. Sie ist ein Teil von uns und hat Zugang zu uns durch die »Hintertür« unseres Bewusstseins. Wir können uns mit ihr verbinden.


Auszug aus meinem Buch "Die Heimkehr der Göttin - die mythische Heldinnenreise zu Transformation und Ganzheit"  



Endnoten:


1 Walker, Barbara G. (1995): Das geheime Wissen der Frauen. dtv, S. 361 ff. 

2 Ebda., S. 316 ff. 

3 Schenker, Hans-Martin (2010): Nag Hammadi Deutsch: Studienausgabe. Eingeleitet und übersetzt von Mitgliedern des Berliner Arbeitskreises für Koptisch-Gnostische Schriften. De Gruyter. 






 

Die Suche nach dem weiblichen Archeplot


Wer sich mit Storytelling oder mit C.G. Jung beschäftigt, der kommt an der Heldenreise nicht vorbei. Von der Odyssee über das Gilgamesch Epos und Star Wars bis Harry Potter bildet sie das Grundmuster aller großen Erzählungen der Menschheit, so heißt es. Joseph Campbell gilt als der Entdecker dieser mythischen Erzählstruktur, die zu Disneys Erfolgsgeheimnis wurde. In 12 Schritten reist der Held in die Unterwelt und kehrt mit einem Elixier in die Oberwelt zurück, deren Herrscher er wird. Im Wort »Herrscher« liegt schon der erste Hinweis, womit wir es hier zu tun haben – mit männlichem Größenwahn. Die Unterwelt, die eigene Psyche als Ort der Machtaneignung des Männlichen. 

Seither fasziniert die Heldenreise Geschichtenerzähler ebenso wie Suchende und Psychonauten. Sie gilt als der Schlüssel zu unserer Seele und zu unserer Selbstheilung. 


Allein, für Frauen funktioniert sie nicht. Ganz gleich, wie oft ich die Heldenreise in meinen Erzählungen anwandte, sie taugte einfach nicht für weibliche Protagonistinnen. Es gab und gibt zwar Versuche, sie sozusagen »weiblich« zu übersetzen, doch sie alle bleiben dem patriarchalen Diskurs verhaftet. C. G. Jung selbst war der Meinung, dass das Innenleben von Frauen und ihre Bewusstseinsentwicklung nicht so spannend sein könnten wie das von Männern. Die feministische Kritik an dem vielverehrten Psychoanalytiker wird in diesem Buch Thema sein. 


Einen Verweis auf das, was mich an der Heldenreise störte, fand ich bei Mary Daly, ein einziger Satz, in dem sie von einem Gespräch mit Joseph Campbell berichtete, der sagte, die Frauen brauchten die Heldenreise nicht, sei seien längst dort. Ein bemerkenswerter Satz, dem kaum jemand Beachtung schenkte, weil Mary Dalys Analyse selbst als ein Mysterium gilt, schon aufgrund ihrer Sprache. Was Joseph Campbell meinte, ist, dass Frauen die Trennung vom Selbst, vom Unbewussten und der Welt an sich, nicht überwinden müssen, weil sie mit ihr auf andere Weise verbunden sind. Das trifft auf den Urzustand des Weiblichen wohl zu und wird auf vielfältige Weise von der Forschung unterstützt, ob es nun den Ausstoß von DMT an Tag 40 der Schwangerschaft geht oder die Nutzung der linken Hirnhälfte bis zum Ende der Fruchtbarkeit bis hin zum Großmutter-Paradox geht, doch knapp 5.000 Jahre Patriarchat haben in uns Frauen das hinterlassen, was man ein kollektives, transgeneratives Trauma nennen kann. Wir, das sind die Überlebenden. Die Widerständigen sind tot. Wir müssen mit dem zurechtkommen, was wir aus der Asche und den Spuren lesen können, und was unsere eigene, innere Wahrheit uns sagt, was die Göttin uns zuflüstert, wenn man so will. 


Tatsächlich gibt es sehr wohl so etwas wie eine weibliche Heldenreise, in der Erzählung von Inanna und auch in der Persephone Erzählung finden wir Elemente dessen, was wohl einst die ursprüngliche Reise in das Innere gewesen sein muss, bevor das Patriarchat es an sich riss und kompromittierte. 

Wir können diese ursprüngliche Reise in die Unterwelt, um als neuer Mensch wiedergeboren zu werden, nur noch bruchstückhaft rekonstruieren. So glaubten die Menschen in der Vorzeit, dass die Sonne in der Nacht durch die Unterwelt reiste und dann neugeboren wurde. Das Muster dieser Reise ist tief in unsere menschliche Psyche eingeschrieben, sie ist ein Teil unseres Erbes als Menschen. Doch ursprünglich war es die Göttin als Verkörperung der Sonne, die diese Reise antrat, jeden Tag und jedes Jahr. Unsere Vorfahren betrachteten das Leben und auch die Zeit als etwas Zyklisches, denn das war es, was sie beobachten konnten, ein ewiger Kreislauf aus Werden und Vergehen, in den sowohl der Körper als auch die Seele eingebunden sind. Wenn der Körper stirbt, reist die Seele durch die Unterwelt und wird neugeboren. 


Doch es gibt auch kleinere Zyklen, so wie es Tag und Nacht, den Monat und die Jahreszeiten gibt, die ineinandergreifen und diese sind Wandlungsprozessen vorbehalten, die wir innerhalb unseres Lebens machen, um uns weiterzuentwickeln und zu reifen. Nichts ist statisch, die Veränderung ist das einzig Beständige im Fluss des Lebens und das ist kein metaphysischer Schnickschnack, um das Leben zu bewältigen, und in einer sich verändernden Umwelt zu überleben. 


Wir alle wissen, dass unser Körper über erstaunliche Selbstheilung verfügt. Doch unsere Seele ist scheinbar schutz- und hilflos all den kleinen und großen Verletzungen ausgeliefert, die sie dann als Traumata mit sich schleppt, bis sie stirbt. Nur umfangreiche psychotherapeutische Behandlung mit ungewissem Ausgang oder Medikamente können dabei helfen. Und obwohl unsere Lebensumstände seit Jahrhunderten und Jahrzehnten zumindest in der westlichen Welt immer besser und sicherer werden, nimmt die Zahl psychischer Erkrankungen ständig zu.

Wieso sollten die Natur, die Evolution, etwas so Uneffizientes, etwas so Defizitäres wie eine fragile, bei Verletzungen unheilbar erkrankende Psyche erschaffen und über so einen langen Zeitraum beibehalten? Psychische Erkrankungen stellen eine direkte Bedrohung für das Prinzip des Lebens, das seinen Fortbestand sichern möchte, dar. Wie also kann es sein, dass wir zwar körperlich immer größer und gesünder werden, psychisch aber immer kränker? Und das, obwohl unsere Vorfahren mit weit größeren Gefahren und Traumata fertig werden mussten. Naturkatastrophen, Krieg, der Tod von Kindern und Angehörigen, Seuchen und Unfälle gehörten bis dicht an unsere Zeit heran noch zum Alltag der Menschen.


Was mag das mit der Psyche der Steinzeitmenschen gemacht haben? Wie konnten sie ohne Therapeuten und Psychopharmaka überleben? 

Die Antwort ist: Die Seele verfügt über eben so starke Selbstheilungskräfte und einen starken Überlebenswillen wie unser Körper. Das Muster dafür ist in uns allen angelegt und spiegelt sich in den Zyklen der Natur. Doch weil wir aufgehört haben, dem zu vertrauen und zu folgen, was wir sehen und was wir fühlen und stattdessen das glauben, was die »Wissenschaft« uns als Wahrheit, weil bewiesen, vormacht, haben wir uns weit von diesem Muster entfernt.

In einer verzerrten und einzig auf den Mann und seine Weltsicht ausgerichtete Form finden wir sie in der klassischen Heldenreise, die uns allen vertraut ist. Verzerrt ist sie übrigens nicht, weil Männer Männer sind, sondern weil eine patriarchale Gesellschaftsform auch von Männern eine bestimmte Anpassungsleistung erfordert und genau dafür ist die klassische Heldenreise die Vorlage. 


Geschichten bestimmen unser Leben. Sogar unsere Erinnerungen sind letztlich nichts anderes als Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen. Seit den Anfängen der Sprache beschreiben wir die Welt und unsere Erfahrungen in Geschichten und geben sie als solche weiter. Geschichten stiften Identität und Sinn. Das gilt besonders für den »Archeplot« der Heldenreise. 

Es ist bezeichnend, dass viele Frauen zwar spüren, dass dieser Archeplot irgendwie nicht zu ihnen passt, doch sie nehmen es hin, auch, weil wir als Frauen es gewohnt sind, uns ständig in einer Welt zu bewegen, in der das Männliche als die Norm gilt, das Weibliche als die Abweichung. 

Wir akzeptieren, dass wir keine eigene Heldenreise haben. Doch das ist falsch. Es gab und gibt einen viel älteren Archeplot, der viel weiter in der Geschichte zurückreicht und der uns nicht erklärt, wie wir zum Helden werden, sondern wie wir uns in dieser Welt mit all ihren Geheimnissen und Rätseln selbst finden und wie es uns gelingt in einem Prozess, der in seinem katharsischen Wirken dem physischen Fieber ähnelt, von den Traumata der Vergangenheit befreien und zu neuer Ganzheit gelangen können. Heilung ist möglich, jederzeit.


In meiner Suche nach Erklärungen stieß ich auf C.G. Jung und seine Archetypen, ich beschäftigte mich sehr intensiv mit der männlichen Heldenreise, die ja auch von einer Reise in die Unterwelt erzählt, doch das, was da beschrieben wurde, wollte einfach nicht zu dem passen, was ich und die anderen Frauen erfahren hatten. Überhaupt wusste ich bereits aus meiner Tätigkeit als Ghostwriter und Drehbuchautorin, dass die männliche Heldenreise für starke Frauenfiguren nur bedingt funktioniert, hatte mich aber immer gewundert, wieso das niemand aufgefallen war oder warum das nicht breiter diskutiert wird. Ich ahne, dass es etwas damit zu tun hat, dass eine echte weibliche Heldenreise die Kraft hat die patriarchalen Fesseln von Jahrtausenden, die man unserem Bewusstsein angelegt hat, zu sprengen und Heilung nicht nur für mich, sondern auch für meine Ahninnen und Töchter zu finden. Das Patriarchat braucht traumatisierte Frauen, weil diese sich besser fremdsteuern lassen. Eine geheilte Frau, die sich ihrer schöpferischen Macht voll bewusst ist und auf die tradierten Rollenmuster pfeift, in die man sie pressen möchte, ist der Albtraum für all jene, die die männliche Dominanz, ob subtil oder direkt, für die Normalität halten und erhalten wollen. 


Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass unser gesamtes Wirtschaftssystem darauf aufbaut, dass Frauen arbeiten und zusätzlich noch umsonst die ganze Sorgearbeit von Kindererziehung über Haushalt bis zur Kranken- und Altenpflege übernehmen. Würden wir dafür Geld verlangen oder verweigern, wäre unsere Wirtschaft am Ende. 

Frauen werden nicht einfach zu Heldinnen, weil sie zuerst die Hindernisse überwinden müssen, die ihnen das Patriarchat in den Weg stellt und dafür müssen sie diese erst einmal erkennen. Am Anfang steht also der Prozess der Bewusstwerdung. 


Der Held als Archetyp ist für uns heute zwar selbstverständlich, weil er in der Mehrzahl der Filme und Bücher vorkommt, doch wenn wir in der Geschichte zurückreisen, bis zu jenem Punkt, an dem die Überlieferungen enden, bezeichnenderweise etwa zu dem Zeitpunkt, als die großen Bibliotheken von Alexandria und Pergamon bewusst vernichtet wurden und erst Griechenland und dann Rom aufbrach, um mit einer patriarchalen Gesellschaftsform ihre Nachbarländer zu kolonialisieren, dann erkennen wir, dass es vorher andere Geschichten gegeben haben muss. Geschichten, in denen die Frau als Verkörperung der großen Mutter, des ersten Göttlichen, eine Rolle gespielt haben. Vereinzelt finden wir Hinweise darauf in alten Überlieferungen, etwa, wenn die Riten zu Ehren Hekates oder die eleusischen Rituale für Demeter beschrieben werden, in den fälschlicherweise als »Venus«-Figuren beschriebenen Göttinnenfiguren der Steinzeit oder in den oral weitergegebenen Geschichten indigener Kulturen wie den Navajo oder den Lakota. Wir kennen die Geschichten von Inanna und Persephone, die ihre Reisen in die Unterwelt antreten mussten, vielfach aber schon unter patriarchalen Vorzeichen. Von all diesen Spuren und Relikten, die uns, wenn wir genauer hinsehen, ein ziemlich vollständiges Bild von dem geben, was heute »Herstory« genannt wird – die verloren gegangene Geschichte der Frauen und ihrer Göttinnen. 


Das Patriarchat und später die Kirche hatten mit aller Macht versucht, jede Erinnerung an die alte Bedeutung des Weiblichen als Erschafferin des Lebens, als große Schöpferin und Mittelpunkt sozialer Beziehungen, auszulöschen. Es gelang ihnen nie vollständig, wie die starke Marienverehrung in vielen katholisch geprägten Ländern bis heute zeigt. 


Was uns geblieben sind, sind verzerrte Relikte des einst Gewesenen, in Archetypen wie der Hexe oder der heiligen Hure. 

Und dennoch war die Bindung an die große Muttergöttin aus der Steinzeit und ihre späteren Emanationen in Form vieler Göttinnen nicht vollständig unterbrochen worden. Auch wenn es keine bewusste Tradition mehr gab, spätestens seit den Hexenprozessen der Frühen Neuzeit war jede bewusste Verbindung mit dem »großen Runden« viel zu gefährlich und in Vergessenheit geraten, so war die Göttin in ihrer Emanation der dunklen Mutter doch stets lebendig geblieben und fand, sozusagen durch die Hintertür veränderter Bewusstseinszustände, Zutritt zu den Frauen.


Deshalb beschäftigte ich mich mit der Frage, ob es so etwas wie ein spezifisch weibliches Bewusstsein gab, das mit dem Archetyp der dunklen Mutter interagierte, und stellte fest, dass diese Frage so noch nie gestellt worden war. 

Worauf ich stieß, waren Überlieferungen, die aus der Vorzeit bis in die Frühe Neuzeit reichen und die von einem »zyklischen Wahnsinn« berichten, der Frauen befalle, auch bekannt als »Lunatismus«. Im Rhythmus des Mondes (und ihres eigenen Zyklus) veränderte sich, so die für viele Männer furchterregende Beobachtung, der Bewusstseinszustand von Frauen. Für einige Tage verließen sie ihr Alltagsbewusstsein und fanden, ganz von selbst, Zugang zu transzendenten Bewusstseinszuständen, die ihnen eine unmittelbare Erfahrung der Göttin ermöglichten. Diese Erfahrungen konnten durch die Einnahme bestimmter Kräuter wie Tollkirschen, Bilsenkraut und Wermut noch vertieft werden.


Hervorgerufen werden diese Zustände wohl durch das Auf und Ab des weiblichen Zyklus. So ist bekannt, dass Frauen bis zu ihrer Menopause die für Intuition, Kreativität und Divination zuständige rechte Gehirnhälfte ergänzend zur linken nutzen, während sich Männer ausschließlich auf die rationale, linke beschränken und diese Beschränkung nur durch aktives Handeln wie Meditation, Trance oder psychedelische Drogen überwinden können. Diese Zustände sind dafür bekannt, uns zu tiefer Selbsterkenntnis zu führen und ein großes Heilungspotenzial zu haben. Kein Wunder also, dass Joseph Campbell, der Mythenforscher und Entdecker der Heldenreise über Frauen schrieb: »Frauen brauchen die Heldenreise nicht. Sie sind schon immer da.«

Dieses Körperwissen haben viele Frauen verloren.


Die Einnahme hormoneller Verhütungsmittel verhindert die »echte« Erfahrung des mondabhängigen Zyklus, sie imitiert sie nur. 

Gleichzeitig versuchen wir, die Welt so zu erleben und zu betrachten, wie es die Männer tun: linear, rational, positivistisch. Wir vergewaltigen unser Bewusstsein, damit es in dieser Welt funktioniert, und wundern uns stets, wieso wir trotzdem nicht mithalten können.


Weil diese Welt eine falsche ist. Man hat uns beigebracht, dass unser Erfahrungswissen, unsere Intuition, dass unser Fokus auf Bindungen und Beziehungen statt auf Macht und Machterhalt, inferior ist zu dem Streben der Männer, nicht »wissenschaftlich«, unlogisch, irrational, gefühlsgesteuert. Aus diesem Grund blenden wir das Wissen unserer Mütter und Großmütter, in uns transportiert über die Epigenetik von einer Generation zur anderen, einfach aus und fragen uns dann, wieso wir langsam, aber sicher verrückt werden in der Welt der Männer. 


Wir stehen an einem Scheideweg. Vielen Frauen in der westlichen Welt ist es zum ersten Mal seit Jahrtausenden gelungen, die äußeren Fesseln des Patriarchats abzuschütteln. Wir müssen nicht mehr heiraten und uns einem Mann unterwerfen, um zu überleben. Wir sind noch immer nicht frei und sexuelle Gewalt und Sexismus gehören für die meisten von uns zum Alltag, doch wir haben genug Bewegungsfreiheit, um nicht mehr nur mit dem Überleben (auch dem unserer Kinder) beschäftigt zu sein. 

Viele wollen die alten Kämpfe hinter sich lassen. Wer braucht schon Feminismus? Tief in unserem Inneren sitzt die Sehnsucht nach dem Traumprinzen, dem Ritter auf dem weißen Pferd, der großen Liebe, die sie uns als wir noch kleine Mädchen waren, versprochen haben. 

Wir haben diese Rollenmuster so tief in uns verinnerlicht, dass wir sie für unsere eigenen Bedürfnisse halten. Das ist das Ergebnis von knapp 7000 Jahren patriarchaler Gehirnwäsche. Wer in der »Herrschaft der Väter« überleben wollte, musste sich dem anpassen. 


Doch die Göttin ist noch immer hier und sie steht uns als Hekate und Hüterin der Scheidewege in dieser Zeit besonders zur Seite. Sie war niemals fort. Sie lädt uns ein, heimzukehren, Heilung zu finden und unsere ganze, urweibliche Kraft. Wir sind die Schöpferinnen des Lebens. Durch uns fließt die Macht des Göttlichen. Wir sind unmittelbar und direkt mit der Göttin verbunden. Wir müssen uns nur daran erinnern. Und genau das beschreibt die »Heimkehr der Göttin« als weibliche Heldenreise.


Sie ist keine Erfindung von mir, vielmehr habe ich sie »entdeckt«. Viele erfolgreiche Storyteller, die wirklich starke Frauenfiguren erschaffen möchten, etwa James Cameron, wenden sie bereits an. Es ist das Urmuster weiblicher Bewusstwerdung und Befreiung, in uns angelegt, damit wir, vollkommen allein, einen Weg zurück zu uns selbst finden. Alles, was es dazu braucht, ist den Mut, ihn auch zu beschreiten.


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