Die Stationen des mythischen Archeplots - die weibliche Heldenreise
1. Die Welt der Väter
In Campbells Heldenreise ist dies »die normale Welt«. Wir Frauen werden geboren in einer Welt, die von Männern definiert wird und die uns Frauen unseren Platz zuweist. Wir erleben Widersprüche, etwa, dass Jungen von Anfang an mehr Freiräume erhalten als wir, doch noch fehlt uns das Bewusstsein, diese Widersprüche zu dekonstruieren. Wir wollen geliebt werden, von unseren Vätern und wir schauen all die romantischen (Disney)filme, in denen uns beigebracht wird, dass es das Wichtigste im Leben einer Frau ist, den richtigen Mann zu finden und von ihm geliebt zu werden. Darin, so heißt es, liegt das höchste Glück im Leben einer Frau. Dann erst kann sie wahrhaft glücklich, wahrhaft Frau sein.
Was in der klassischen Heldenreise die »normale Welt« ist, ist in der weiblichen Heldenreise die »Welt der Väter« – denn das ist unsere normale Welt.
Niemand erklärt uns, dass wir in das Patriarchat geboren werden, vielmehr spüren wir immer wieder, dass die Welt und wir irgendwie nicht zusammenpassen.
Man sagt uns, dass wir uns benehmen sollen, dass wir freundlich bleiben sollen, zugewandt, fleißig, hübsch, brav, hilfsbereit. Dann bekommen wir Anerkennung – und Liebe, zumindest wird uns das versprochen.
Das bedeutet, dass wir viele Anteile von uns – das wilde Mädchen – verdrängen und unterdrücken müssen. Wir passen uns an, um geliebt zu werden.
Der Grad dieser Anpassung kann sehr unterschiedlich sein. Möglicherweise wachse ich in einer sehr freien Familie auf, aber werde von Lehrern entsprechend geprägt. Ganz grundsätzlich reichen aber auch die Rollenbilder, die man uns im Fernsehen oder auf Social Media verkauft, damit wir anhand dieser Vorbilder lernen, welche weiblichen Verhaltensweisen erwünscht sind und welche nicht, und nach welchen Zielen wir unser Leben auszurichten haben.
Wir beobachten an unseren Müttern und anderen Frauen, wie diese sich verhalten, und ahmen dieses Verhalten nach. Daraus entsteht unsere Prägung als Frau. Dazu gehören oft Scham, aber auch ein Hang zum Perfektionismus und zur Aufopferung.
Viele Bereiche unseres weiblichen Seins erkunden wir nicht. Wir lernen nicht, zu träumen, uns zurückzuziehen, unserer inneren Weiblichkeit zu vertrauen, wir erfahren nichts von Göttinnen und der Großen Mutter, von heilenden Ritualen oder von Transformation und Transzendenz.
Wir lernen, uns anzupassen und zu funktionieren und eine ganze Weile sind wir auch ganz gut darin, weil wir gar nicht wissen, dass es auch noch etwas anderes gibt.
Die Göttin oder mythische Figur, die das verkörpert, ist die griechische Athene. Sie ist die Tochter von Zeus, dem Göttervater, und gilt als Göttin der Weisheit, des Kampfes, der Strategie, der Handwerkskunst und der Wissenschaft. Athene wird oft mit einer Eule und einem Schild dargestellt, auf dem das Medusenhaupt zu sehen ist.
Medusa war in der griechischen Mythologie eine der drei Gorgonen, die als grausame Kreaturen mit Schlangen auf dem Kopf dargestellt wurden. Sie war die einzige Gorgone, die sterblich war und in einigen Versionen der Legende wird beschrieben, dass sie einst eine wunderschöne Frau war.
Laut der Mythologie wurde Medusa von der Göttin Athene verflucht, nachdem sie in ihrem Tempel eine sündhafte Tat begangen hatte. Der Fluch verwandelte Medusas Haare in Schlangen und machte sie zu einem abschreckenden Monster. Wer Medusa ins Gesicht sah, wurde sofort in Stein verwandelt.
Medusa wurde oft als Symbol der Angst oder des Bösen dargestellt, aber auch als Bewahrerin von Geheimnissen und Wissen. In vielen Geschichten wurde sie von Helden wie Perseus besiegt, der ihr den Kopf abschnitt und später als Waffe gegen seine Feinde benutzte.
Medusa steht für die alte, wilde Weiblichkeit, die sich nicht unterordnet, sondern ihre Feinde mit ihren magischen Fähigkeiten in Stein verwandelt. Sie repräsentiert die Macht der Großen Mutter.
Athene ermordet sie, um ihrem Vater zu gefallen, und trennt damit die Verbindung zur Großen Mutter.
Sehr leicht können wir uns hier eine Frau vorstellen, die alles tut, um ihrem Vater zu gefallen und als Erwachsene nach dem »perfekten« Mann sucht, um ihn zu heiraten. Sie lebt im Außen, ausgerichtet auf Beifall von Männerseite, für ihren Erfolg, ihre sportlichen Leistungen, ihre Kameradschaft, während der Ruf des Weiblichen in ihr verkümmert. Oft erlebt sie irgendwann eine große Ent-täuschung, in der ihr klar wird, dass sie dennoch nie völlig von Männern akzeptiert und anerkannt werden wird – einfach weil sie eine Frau ist. Das ist meistens ihr Eintrittspunkt in die Krise und den Wandel.
Ein Beispiel aus Literatur und Film ist der Film »Titanic« von Peter Jackson. In diesem Film wird die weibliche Heldenreise inklusive des Wandels durch eine Krise – die sogar im Außen sichtbar gemacht wird durch den Untergang der Titanic – abgebildet, was zeigt, dass Hollywood längst um den Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Heldenreise weiß, vielleicht auch nur unbewusst.
Kate Winslet geht als Rose DeWitt Bukater an Bord der Titanic. Sie ist eine Tochter aus wohlhabendem Haus und mit einem vielversprechenden jungen Mann verlobt.
In der Welt der Väter sind wir vollkommen unbewusst. Wir tun das, was man von uns erwartet und ahnen nicht einmal, dass es da noch eine ganz andere Welt gibt. Hin und wieder meldet sich vielleicht ein Gefühl der Irritation, über eine Welt, die so ablehnend uns gegenüber ist, aber da alle anderen das auch so akzeptieren, denken wir, es sei nur ein Gefühl, das uns überfällt.
2. Der Ruf der Sehnsucht
Was in Campbells Heldenreise »der Ruf des Abenteuers« ist, ist für Frauen der Ruf der Sehnsucht. Irgendwann ist er da, der Eine, auf den wir so lange gewartet haben. Zumindest sind wir uns dessen sicher. Da kommt ein Mann, für den wir alles über den Haufen werfen, Studium, Job, Freiheit, um mit ihm die langersehnte Zweisamkeit zu leben. Wir reisen, wir heiraten, alles scheint perfekt. Ja, es scheint. Denn lange währt dieses Glück nicht. Die Kleinfamilie aus Vater, Mutter und Kind ist ein patriarchales Konstrukt. In Wirklichkeit lebte die Menschheit über Jahrtausende hinweg in matrifokalen Kleingruppen mit den Müttern im Zentrum. Frauen waren die verbindenden Elemente der Gemeinschaft, Hierarchien, Macht, Krieg waren unbekannt.
Die Frau spürt, dass etwas nicht stimmt und beginnt, sich nach etwas zu sehnen. Da sie nicht in Worte fassen kann, was es ist, sehnt sie sich zunächst nach dem, was ihr die Gesellschaft als Erfüllung vorgibt: Partnerschaft, Erfolg im Beruf, Schönheit, etc.
Eine der bekanntesten und eindrucksvollsten Liebesgeschichten aus der keltischen Mythologie ist die Sage von Diarmuid und Gráinne.
Diarmuid war ein Krieger des Fianna, einer legendären Kriegergruppe aus dem Mythoszyklus der keltischen Mythologie. Gráinne hingegen war die Tochter von Cormac Mac Airt, einem König von Irland. Eines Tages wurde Gráinne von ihrem Vater dazu gezwungen, den ältesten Anführer der Fianna, Fionn mac Cumhaill, zu heiraten. Doch Gráinne war bereits in Diarmuid verliebt und floh mit ihm.
Fionn, tief verletzt und gedemütigt durch Gráinnes Flucht, setzte alles daran, sie und Diarmuid zu finden und zu töten. Aber Diarmuid und Gráinne waren schlau und geschickt genug, um immer einen Schritt voraus zu sein.
Sie lebten viele Jahre versteckt und verliebt zusammen, bis Fionn sie schließlich aufspürte und angriff. In einer dramatischen Schlacht kämpfte Diarmuid gegen Fionn und dessen Männer, aber er wurde tödlich verwundet.
Gráinne war untröstlich und bat Fionn um Vergebung. Doch Diarmuid starb in ihren Armen und sie wollte nicht ohne ihn leben. Sie bat Fionn, sie zu töten, damit sie zusammen sein konnten, und er gewährte ihr diesen letzten Wunsch.
Die Geschichte von Diarmuid und Gráinne steht für die Macht der Liebe und die Opfer, die man bereit ist, für sie zu bringen. Sie zeigt auch die Konflikte und Spannungen zwischen verschiedenen Clans und Kriegergruppen, die in der keltischen Mythologie eine wichtige Rolle spielten.
Der Ruf der Sehnsucht in Gráinne war so groß, dass sie bereit war, dafür zu sterben.
In unserer Welt ist es eine junge Frau, die sich unsterblich in einen Mann verliebt, in der Fürsorge und Hingabe zu ihm vollkommen aufgeht. Frauen sind wunderschön, wenn sie lieben.
Leider ist der darauffolgende Schmerz unvermeidlich.
In dieser Phase beginnt die Sehnsucht in uns zu pochen, erst ganz leise, dann immer lauter, bis wir diesen Ruf nicht mehr ignorieren können. Wir sträuben uns, verleugnen ihn, tun so, als ob alles in Ordnung ist, doch auf einmal ist das, was wir kennen, nicht mehr genug und wir sehnen uns nach dem Unbekannten. Es ist unsere Seele, die uns ruft, die uns auffordert, auszubrechen aus dem Gewohnten, um uns selbst zu erfahren.
Wir fürchten das Unbekannte, wir stemmen uns dagegen, doch das Lied der Sehnsucht lässt sich nicht mehr zum Schweigen bringen, wenn es einmal erwacht ist und bald durchzieht es unser ganzes Leben.
Es kann ein Mensch sein, der in unser Leben tritt, aber auch nur ein neuer Gedanke, eine Idee, die uns nicht mehr loslässt. Oft denken wir in dieser Phase zuerst: »Das darf nicht sein!«
Doch dann wird das Lied nur noch lauter und drängender, es verfolgt uns bis in unsere Träume und schließlich geben wir nach.
Eine große Lebendigkeit stellt sich ein, alles kommt in Bewegung. Wir empfinden Euphorie und schwingen ganz hoch. Wir werden von Liebe, Hoffnung und Zuversicht durchströmt. Wir lieben und werden geliebt und alles ist, wie es sein soll.
Diese Phase kennen auch Literatur und Film: Bella verliebt sich in »Twilight« in Edward, der mysteriös und faszinierend ist, ohne zu wissen, was sich in Wirklichkeit hinter ihm verbirgt. Auf der Titanic verliebt sich Rose in Jack. Christa Wolfs Kassandra verliebt sich in Apoll.
3. Der Verrat/der Verlust
Es kommt, wie es kommen musst. Die romantische Illusion bekommt Risse. Der Traummann betrügt uns, schlägt uns, verlässt uns oder entpuppt sich einfach nur als Langweiler. Vielleicht ist er auch ein Narzisst oder einfach nicht der, für den wir ihn hielten. Wir bekommen das Gefühl, betrogen worden zu sein, nicht nur von ihm, sondern von der ganzen Welt. Dieses Gefühl kennen Frauen gut. Worauf es jetzt ankommt, ist, wie sie damit umgehen.
Während sie nach dem perfekten Partner, dem perfekten Job, dem perfekten Aussehen strebt, kommt die Frau in eine Krise. Der Partner betrügt sie, der berufliche Erfolg stellt sich als Sackgasse heraus, sie fühlt sich verraten und empfindet einen starken Verlust.
Der Verrat ist eine große Ent-Täuschung und das kann sehr schmerzhaft sein. Mayas Schleier wird beiseitegeschoben, und wir sehen die Dinge auf einmal in einem anderen Licht.
Das Thema Verrat hat viele Aspekte. Wir können durch Freundinnen und Gefährtinnen verraten werden, weil sich Konkurrenz und Neid breitmachen. Wir können durch unsere Eltern verraten und im Stich gelassen werden oder durch unsere Kinder, die sich gegen uns wenden.
Wir können uns selbst verraten, weil wir Dingen nachjagen, die nicht für uns bestimmt sind.
Wir können von den Institutionen verraten werden, denen wir vertrauen, Ärzten, Krankenhäusern, Therapeuten, Coaches oder von der Gesellschaft als Ganzes, weil wir uns im Stich gelassen fühlen, aussortiert.
Die Göttin, die das repräsentiert, ist die walisische Blodeuwedd. Blodeuwedd ist eine Figur aus der walisischen Mythologie. Sie wurde von Gwydion, dem keltischen Gott des Lichts und der Musik, erschaffen, um den Helden Lleu Llaw Gyffes zu heiraten.
Laut der Legende wurde Blodeuwedd aus Blumen und Frühlingskräutern geschaffen und war so schön, dass Lleu sofort in sie verliebt war. Doch Blodeuwedd hatte ein Geheimnis: Sie hatte keine menschliche Seele und fühlte sich nicht zu Lleu hingezogen.
Eines Tages traf Blodeuwedd den Jäger Gronw, der sie verführte und Lleu in einem Komplott tötete. Als Strafe für ihren Verrat wurde Blodeuwedd in eine Eule verwandelt und musste fortan als Vogel durch die Welt fliegen.
Blodeuwedd für die Konsequenzen von Verrat und Betrug. Trotz ihrer tragischen Geschichte wird sie bis heute als eine der ikonischsten Figuren der walisischen Mythologie angesehen. Sie repräsentiert die Liebe zur Natur. Lleu steht für die patriarchale Ordnung, der Jäger als mythische Figur ist immer verbunden mit der alten Ordnung der großen Mutter. Gronw erweckt ihre Liebe und weckt sie aus dem patriarchalen Dornröschenschlaf. Der »Verrat« ist also nur aus patriarchaler Sicht einer. In Wirklichkeit befreit sich Blodeuwedd.
Medea war eine Figur aus der griechischen Mythologie und die Tochter des Königs von Kolchis. Sie ist vor allem für ihre Rolle in der Tragödie »Medea« des antiken griechischen Dramatikers Euripides bekannt.
In der griechischen Mythologie half Medea dem Helden Jason, das Goldene Vlies zu finden, indem sie ihm magische Kräuter gab und ihm half, verschiedene Prüfungen zu bestehen. Im Gegenzug bat sie ihn, sie zu heiraten und mit ihr in seine Heimatstadt Iolkos zurückzukehren.
Doch als Jason und Medea in Iolkos ankamen, wurde ihnen klar, dass sie dort nicht willkommen waren. Jason beschloss, eine andere Frau zu heiraten, und Medea war außer sich vor Wut und Verzweiflung. Sie beschloss, für ihren Mann zu kämpfen und tötete ihre eigenen Kinder, um Jason zu strafen und ihm den größtmöglichen Schmerz zuzufügen.
Medea opfert sich für den Geliebten auf, doch er verrät und verstößt sie. Das kennen wir möglicherweise aus unserem eigenen Leben. Unser Partner, unser Vertrauter, verrät uns, geht fremd oder misshandelt uns emotional. Er ist rücksichtslos.
In »Twilight« erkennt Bella, dass Edward ein Vampir ist und sie in tödliche Gefahr bringt, Rose auf der Titanic sieht das wahre Gesicht ihres Verlobten und Kassandra wird dazu gezwungen, mit Aeneas zu schlafen.
Der Schleier ist weg, die Illusion ist weg, doch uns stürzt das in das Chaos. Der Schmerz ist unermesslich, denn der Zusammenprall mit der Realität ist hart.
4. Das Labyrinth der Seele
Die Ent-Täuschung löst die Krise aus und ab jetzt irren wir durch das Labyrinth unserer eigenen Glaubenssätze, Prägungen und Überzeugungen. Wir sind erfüllt von Selbstzweifeln, von Angst, von Kummer und Schmerz. Die Einsamkeit frisst uns auf.
Die Illusion der Einheit der Paarbeziehung wurde zerstört. Das Gefühl des Getrenntseins ist stark und so irrt die Frau nun durch ein Labyrinth. Wer bin ich eigentlich? Und was ist das für eine Welt, in der ich da lebe? Eine Welt, die mir sagt, ich könnte sein, wer ich will, und mich doch immer wieder in Rollenmuster zwängt, die meine Freiheit beschneiden, ja, die mir sogar Gewalt antun? Von Porno bis Prostitution, von Alltagssexismus bis häuslicher Gewalt und Femizid die Welt ist voll von dem, was das Patriarchat Frauen antut, während es uns erzählt, wir seien frei. Auch emotionale Gewalt, psychischer Missbrauch oder schlicht Vernachlässigung sind Teil dieser Täuschung.
Jetzt kann die Frau nicht mehr wegsehen. Sie irrt umher und sucht verzweifelt einen Ausweg, um die Ordnung in ihrer Welt wieder herzustellen. Fatalerweise gibt es dafür verschiedene Möglichkeiten. Sie kann sich einfach wieder in die nächste Paarbeziehung stürzen. Sie kann trinken, Drogen nehmen, sich betäuben, sich mit Arbeit ablenken. Sie kann vor der Wahrheit davonlaufen. Oder sie trifft die Entscheidung, das Labyrinth verlassen zu wollen.
Die Krise wird immer stärker und mit ihr die Verwirrung der Frau. Sie sucht nach einem Ausweg, aber aufgrund des Mangels an Vorbildern, auch in Form von Storytelling und gelebten Archetypen gelingt es ihr zunächst nicht, einen Ausweg zu finden. Wir kennen Frauen, die nach der Trennung von ihrem Mann in Krisen gerät.
Rhiannon ist eine Figur aus der walisischen Mythologie und gilt als Göttin oder Fee. Ihr Name bedeutet »Große Königin« oder »Göttin der Pferde«. Sie wird oft mit einem Pferd dargestellt und ist bekannt für ihre Schönheit und ihre Fähigkeit, übernatürliche Kräfte zu besitzen.
In der Mythologie ist Rhiannon vor allem für ihre Rolle in der Geschichte »Pwyll Pendefig Dyfed« bekannt. In dieser Geschichte trifft der Prinz Pwyll auf Rhiannon, die auf einem weißen Pferd reitet. Er verliebt sich sofort in sie und beschließt, sie zu heiraten.
Doch es gibt einige Schwierigkeiten: Rhiannon wird von ihrem eifersüchtigen Ex-Liebhaber verfolgt.
In der walisischen Mythologie wird Rhiannon vorgeworfen, ihr Kind getötet zu haben. In der Geschichte »Pwyll Pendefig Dyfed« verschwindet ihr Sohn Pryderi plötzlich und niemand weiß, was mit ihm passiert ist.
Obwohl Rhiannon beteuert, dass sie unschuldig ist, wird sie von den Menschen beschuldigt, ihr Kind getötet zu haben. Sie wird gezwungen, ihre Tat zu gestehen, und wird von der Gemeinde bestraft. Als Strafe muss sie auf ewig als Pferd dienen und die Besucher des Königs in einem Sack auf ihrem Rücken tragen. Tatsächlich ist sie das Opfer eines männlichen Plots aus Eifersucht. Man schiebt ihr die Schuld in die Schuhe.
Auch das kennen viele Frauen. Ihr Mann geht fremd, die Kinder verhalten sich nicht so, wie sie sollen, und an allem ist die Frau schuld. Sogar an ihrem eigenen Leid gibt man ihr die Schuld. Sie soll sich nicht so anstellen, sich nicht gehen lassen, andere bekommen das doch auch hin.
In der Popkultur wird diese Station der weiblichen Heldenreise durch Britney Spears symbolisiert, die sich die Haare abrasiert und von allen für verrückt erklärt wird.
Rose und Jack irren auf der Titanic durch die sinkende Titanic, Bella wird von Vampiren verfolgt, Kassandra hat ihren Anfall.
Das Buch »Girl on the Train« beginnt mit der Krise, dem Moment, in dem Rachel Watson im Zug sitzt und ihren Ex-Mann beobachtet, ohne sich vollständig an die Vergangenheit zu erinnern oder ihn zu durchschauen. In Rückblenden/Erinnerungen werden dann die vorangegangenen Stationen erzählt. Effi Briest ist den Gaslighting Techniken ihres Ehemannes ausgesetzt.
Das Labyrinth hat viele Aspekte. Es erinnert uns daran, dass wir das Gefühl haben können, im Kreis zu laufen, und immer wieder in denselben Situationen landen, doch in Wirklichkeit nähern wir uns dem Punkt der Mitte an und finden ihn irgendwann. Es kann sich anfühlen wie eine Unendlichkeit, doch irgendwann erreichen wir jenen Punkt.
Ein anderer Aspekt ist, dass es Frauen gibt, die nicht aus dem Labyrinth herausfinden, weil sie tief in sich nicht bereit sind, die Überzeugungen aufzugeben, die sie hierhin gebracht haben. Sie können ihr altes »Ich« nicht sterben lassen und sind deshalb dazu verdammt, im Labyrinth zu bleiben.
Wenn wir uns im Labyrinth befinden, dann ist die Welt ein dunkler Ort. Alles besteht aus Schmerz, Zweifeln und Angst. Wir irren umher, haben jede Orientierung verloren und das Gefühl, dass wir wie ein Spielball von den Stürmen des Lebens herumgeworfen werden. Das kann uns bitter machen und zornig, vor allem aber ist es sehr erschöpfend.
Wir haben das Gefühl, dass es keinen Ausweg gibt. Wir laufen und laufen, laufen gegen unsere Probleme an, doch wir drehen uns im Kreis. Die Stimmen, die wir hören, scheinen uns zu verhöhnen, wir finden keine Ruhe, liegen nächtelang wach, zerquält und verzweifelt.
Wir flüchten uns in Alkohol, Drogen, Ablenkungen, wir betäuben uns mit Arbeit, Sport und Stress bis zur Bewusstlosigkeit und irgendwann ist uns alles egal. Das Leben ist gegen uns und es ist sinnlos, wir wissen selbst nicht mehr, wieso wir weitermachen.
Die Krise wird immer stärker und stärker und der Wunsch in uns, einfach aufzugeben, wird immer größer.
Doch da, in der Dunkelheit, da sind wir nicht allein. Die große Mutter in Gestalt der Hekate sucht uns auf, mit ihren Fackeln, sie bringt Licht, Trost und Hoffnung. Sie lädt uns ein, auf uns selbst zu vertrauen. Sie sagt uns: »Es gibt einen Weg hinaus! Alles, was es braucht, ist deine Entscheidung.«
Wenn der Schmerz groß genug ist, dann wird die Frau die Entscheidung treffen, das Labyrinth verlassen zu wollen, auch wenn das bedeutet, dass sie alles verliert, was sie zu besitzen glaubt.
Der Weg hinaus aus dem Labyrinth kostet das Leben, das alte, vertraute, unnütz gewordene ich der überkommenen Überzeugungen, damit ein neues, wahreres ich geboren werden kann. Es ist ein echter Tod, eine tiefe Transformation, die Annäherung an den Nullpunkt.
5. Die Begegnung mit dem Wächter
Mit der Entscheidung allein, das Labyrinth zu verlassen, ist es nicht getan. Nun schweben wir im luftleeren Raum, sind irgendwo zwischen Leben und Tod, im Raum, wo alles möglich ist. Das ist ein zugleich beängstigender als auch beunruhigender Zustand. Lebe ich? Oder bin ich schon tot?
Plötzlich steht die Frau vor jemand, der sie auf die Probe stellt. Er sagt ihr: »Du kommst hier nicht vorbei.« Er steht zwischen dem, was die Frau sich so sehr wünscht und was er von ihr verlangt, ist, dass sie es einfordert, dass sie Einlass zu jenem Bereich des Göttlichen verlangt, an dem sie Heilung findet.
Ein unangenehmes Gefühl!
Worum geht es? Was immer es ist, das die Frau möchte – Heilung, Freiheit, Erkenntnis – sie muss es beanspruchen und sie muss laut, mit aller Kraft, in das Universum schreien, dass es zu ihr gehört, dass sie es besitzen darf, dass sie würdig ist, eingelassen wird.
Die Frage, die sich an dieser Stelle stellt, ist: »Wie sehr willst du es wirklich?«
In diesem Sommer 2023, in dem ich dieses Buch schreibe, habe ich mir vorgenommen, schwimmen zu gehen, jeden Morgen. Seit Anfang Mai – und es war ein kalter Mai – bin ich jeden Morgen im Schwimmbad. Ich bin schneller geworden, stärker, ich bin an Tagen schwimmen gegangen, an denen meine Migräne – mein großer, alter Feind – mich in die Knie zwang, an denen ich Sorgen hatte, Liebeskummer.
Und ich wurde, unbeabsichtigt, einfach, weil ich jeden Tag da war, Teil einer Gemeinschaft, einer Gemeinschaft von Frauen, die dort jeden Morgen schwamm. Ich bewunderte die Kraft und die Eleganz, mit der sie durch den Sportbereich des Schwimmerbeckens schwammen, und ihr Alter, ihr Gewicht, all das spielte keine Rolle. Von den Männern war in jenem kalten Mai nichts zu sehen.
Eines Tages entschied ich, dass ich so sein wollte, wie sie. Ich wollte lernen, richtig zu schwimmen, mit dem Kopf unter Wasser. Also kaufte ich mir eine Schwimmbrille.
Aber das mit dem Atmen und Schwimmen war viel schwerer als gedacht. Zwei Tage lang prustete ich und schluckte Wasser.
Dann sagte Jutta, eine der Frauen, die dort täglich schwammen, ich soll es doch zuerst einmal mit einem Schwimmbrett versuchen und nur die Beine bewegen. Sie schenkte mir sogar ihr Schwimmbrett.
»Du musst unter Wasser ausatmen«, sagte sie. »Beweg nur die Beine!«
»Isolationstraining«, sagte Iris und sie erzählten mir, wie lange sie geübt hatten, um das zu können, und zu diesen Zeitpunkten waren sie älter gewesen als ich es jetzt war.
Und das tat ich. Ich übte, eine ganze Stunde lang und irgendwann, nach viel Wasserschlucken und Atemlosigkeit, schaffte ich es, mit Brett.
Ich schwamm ganz am Rand, nicht einmal eine halbe Bahn beanspruchte ich.
Plötzlich tauchte neben mir ein Mann auf, mittelalt, mit bösem Gesicht. Er stank nach Arztseife und »male entitlement«, männlichem Anspruchsdenken.
Mit den anderen jungen Männern im Wasser legte er sich nicht an, auch nicht mit den älteren Frauen, aber mit mir, der Jüngeren, Tätowierten, tat er es.
Er war lange nach mir in das Wasser gekommen und hätte sich jede andere Bahn aussuchen können, aber er wollte meine halbe Bahn, weil er sah, dass ich etwas übte. In all den Wochen vorher hatte ich ihn nie gesehen, aber jetzt war er hier und er hatte eine Mission. Die Mission war, mich zu verdrängen.
Also fing er an, direkt auf mich zuzuschwimmen und nicht auszuweichen und mich schließlich anzupöbeln.
Ich ignorierte ihn und schwamm weiter meine Bahn, ich hatte ja ein Ziel. Aber dann beschimpfte er mich und für einen Moment dachte ich, ich sollte einfach aus dem Wasser gehen. Ich hatte keine Lust auf diese Konfrontation, auf die Beschimpfung, auf den widerlichen Geruch dieses ekelhaften Kerls.
Aber ich wollte mir diesen Moment auch nicht nehmen lassen.
»Jetzt ohne Brett«, sagte Jutta.
Und das tat ich.
Ich schwamm, mit meinem Kopf unter Wasser, als hätte ich nie etwas anderes getan. Ich glitt durch das Wasser, atmete ein und unter Wasser aus. Ich hatte es geschafft, dank der anderen Frauen.
Der böse alte Mann schwamm mit hochrotem Kopf davon und der Sieg war meiner.
Hätte ich aufgegeben, an dieser Stelle, dann hätte ich mir diesen Sieg genommen. Es kostete mich Mut, denn ja, ich habe schon viele hässliche und auch gewaltvolle Erfahrungen gerade mit dieser Art von Mann gemacht.
Aber das Schwimmen, das war wichtiger, das war größer als meine Angst.
Unter der Dusche dann erzählten mir die anderen Frauen dann unter lautem Gelächter von all den Malen, in denen sie von Männern bepöbelt wurden, nur weil sie schwimmen.
»Das gehört dazu«, sagten sie und fast, nur fast, hatte ich das Gefühl, ab jetzt ein bisschen mehr eine von ihnen zu sein.
Diese Geschichte ist belanglos, im Gegensatz zu dem, was Frauen Tag für Tag für Kämpfe fechten, aber sie zeigt genau, um was es geht.
Die Frau muss alles ablegen, was sie über sich zu wissen glaubt. Von hier aus geht es nur nackt weiter, schutzlos. All ihre Waffen, all ihre angehäuften Gewissheiten, sie muss sie abstreifen. Alle »Wahrheiten« der Oberwelt gelten hier nicht mehr. Ist sie bereit, sie loszulassen? Übertritt sie diese Schwelle, ist nichts mehr, wie es war, es gibt kein Zurück mehr. Deshalb prüft der Wächter sie. Meistens ist es jemand, den wir nicht besonders gut leiden können, eine unangenehme Begegnung, jemand, der uns durch und durch durchschaut und all unsere Ablenkungs- und Selbsttäuschungsmanöver durchschaut. »Ich bin ein Opfer« oder »immer gerate ich an die falschen Männer«, sind solche Selbsttäuschungen.
Vielen Frauen gelingt das nicht. Sie schrecken zurück, behalten ihre Rüstungen lieber an, bleiben im Schmerz, irren weiter durch das Labyrinth.
Die Frau trifft auf jemanden (oder etwas), das oder der ihr klar macht, dass, um das Labyrinth zu verlassen, ein Opfer notwendig ist. Sie muss ihre alten Rollen abstreifen, ebenso alles, was sie über sich selbst zu wissen glaubt.
In dem Augenblick, in dem wir entscheiden, das Labyrinth zu verlassen, taucht ein Licht in der Dunkelheit auf. Es ist die Fackel Hekates, die gekommen ist, um uns bei unserer Transformation zu helfen. Mit unserer Entscheidung rufen wir sie herbei und von hier an begleitet sie unseren Weg.
Als Beispiel stellen wir uns eine Frau vor, die sich einzurichten versucht mit einem sexistischen Chef und einem faulen Partner, trifft auf eine Mentorin, die ihr klar macht, dass sie so nicht weitermachen kann.
Wir entdecken diese Station auch in Literatur und Film: Rose und Jack schaffen es nicht gemeinsam auf das Rettungsboot, Bella erfährt von den Quileute, welche Bedrohung die Vampire darstellen, Kassandra wird von Paris eine verschleierte Frau als Helena vorgestellt.
6. Das Abstreifen der alten Haut
Wenn der Schmerz groß genug ist, dann ist die Frau bereit, das zu tun, was der Wächter verlangt. Sie streift alles ab, was sie ausmacht, brennt ihre alte Haut, ihr altes Sein nieder, rasiert sich den Schädel kahl, bis sie nackt dasteht. Alles, was sie einst in der Oberwelt ausmachte, ist vergangen. Sie ist nicht mehr »schön« im Sinne von »sexy«. Sie ist nicht mehr »reich«, nicht mehr »berühmt«, nicht mehr »begehrenswert«. Sie ist nicht mehr »die Frau von dem und dem« oder die »Mutter von dem und dem«.
An jenem Tag, an dem der alte Mann mich im Schwimmbad belästigte, geschah noch etwas.
Ich war zu dieser Zeit in einer längeren On-Off-Beziehung mit einem Mann, den ich seit meiner Jugend kannte. Mal war es brennende Leidenschaft zwischen uns, mal war es nichts als toxische Beziehungsgewalt. Ich war zu diesem Zeitpunkt längst so weit, dass ich wusste, dass ich es war, die diese Geschichte in meinem Leben hielt, aber ich hatte Angst davor, loszulassen. Ich war fast 40, ich sehnte mich so sehr danach, geliebt zu werden, eine Partnerschaft zu haben, dass ich die Augen vor all den hässlichen Sachen zwischen uns verschloss und an den guten festhielt.
An jenem Tag sagte er zu mir, nachdem er die ganze Nacht unterwegs gewesen war, getrunken und auch noch ein paar andere Sachen gemacht hatte: »Ich schlage dir den Schädel ein.«
Da wusste ich, dass es Zeit war, zu gehen. Dass das alte »Ich«, die verzeiht, erträgt, die gute Miene zum bösen Spiel macht, sich als verrückt hinstellen lässt, wenn er sein Verhalten mal wieder vor anderen entschuldigte, sie musste sterben. Ich musste diese Haut abstreifen, endgültig. Viele Male hatte ich schon Anlauf genommen, doch es war mir nicht gelungen. Warum? Weil die Zeit noch nicht reif gewesen war.
Aber jetzt war sie es. Ich nahm alles, was ich von ihm hatte, an Mittsommer, gab es in die Feuerschale und zündete es an. Dabei rief ich meine Energie, meine Liebe, meine Worte, alles, was ich ihm im Laufe der Jahre gegeben hatte, zu mir zurück und schrie ein lautes, entschiedenes: »Nein!«.
Danach war ich nicht nur nackt, ich hatte keine Haut mehr. Mein altes »Ich« war tot, das »Ich«, das gezaudert und gezweifelt hatte, dass gelitten hatte und traurig war. Aber ich war auch »seine« Partnerin gewesen. Wer war ich denn jetzt? Was, wenn ich für immer allein blieb? Davor hatte ich keine Angst mehr, denn jetzt stand ich selbst in Flammen.
Dieses Brennen, dieses Abstreifen der alten Haut ist ein unendlich schmerzhafter Prozess. In unserem Leben ist das der Moment, in dem alles auf den Kopf gestellt wird. Wir verlieren Menschen, die auf einmal nicht mehr unsere Freunde sein wollen, weil sie mit diesem »Brennen« nicht zurechtkommen. »Ich verstehe dich nicht mehr« oder »ich weiß gar nicht mehr, wer du bist«, sagen sie. »Ich glaube, du hast dich verloren.« Stimmt! Das ist der Moment, an dem die Magie beginnt!
Wenn das Leid groß genug ist, ist die Frau dazu bereit. Sie verlässt ihre Rollen, was zu Irritationen in der Außenwelt führt. Jetzt gilt sie als verrückt oder rebellisch.
Ein Echo dieser Station finden wir bei der mesopotamischen Göttin Ištar, die in die Unterwelt reist, um ihren Mann zu befreien und erst eingelassen wird, nachdem sie ihre Kleidung, ihren Schmuck und all ihre Waffen ablegt. Erst dann darf sie weitergehen.
Von hier geht es nur nackt weiter. Wir sind jetzt bereit, radikale Veränderungen durchzuführen. Das alte Selbst haben wir hinter uns gelassen.
Rose aus »Titanic« kann nie wieder in ihr altes Leben zurück, sie kann sich nicht einmal sicher sein, dass sie den Untergang der Titanic überlebt, obwohl sie zur privilegierten 1. Klasse gehört.
Bella aus Twilight entscheidet sich für Edward (und gegen Jacob) und Kassandras Bruder Troilos wird von Achill ermordet und sie nennt ihn fortan »das Vieh«.
7. Der Urgrund der Knochenmutter
Wer das Brennen übersteht, der gelangt zum Urgrund der Knochenmutter. Hier steht die Zeit still, hier ist der Nullpunkt. Dort sitzt sie, die alte Weise, die alles kennt und alles gesehen hat. Sie kennt all jene, die dir vorausgegangen sind, kennt jedes Leben, jedes Leid, das je beweint wurde, jeden Verlust, jeden Schmerz.
Die Frau kommt nackt dorthin, mit geschorenem Haar. Ein großes Weinen ist dort, bei der Knochenmutter, das ganze Weinen der Welt, um all das Leid, das Männer in die Welt getragen haben und das Frauen erduldet haben, doch hier ist auch der Anfang für alles neue, wahre Leben.
Eine Weile darf die Frau dort sitzen, darf bei der alten Knochenmutter einen Blick hinter den Spiegel werfen, sehen, wie das Netz des Lebens alles zusammenhält, wie ihre DNA mit der ihrer Vorfahrinnen verwoben ist und wie ihre Töchter ihr Erbe tragen. Erschreckend und schön ist es, was sie dort erfährt. Sie weiß nicht mehr, wer sie ist. Ist sie verrückt? Oder tot?
»Was soll ich jetzt tun?«, fragt sie die Knochenmutter.
»Etwas von dir muss hierbleiben«, sagt die Knochenmutter.
»Aber ich habe doch schon so viel verloren«, sagt die Frau.
»Und dennoch«, sagt die Knochenmutter.
Und hier, am Scheideweg, am Scheitelpunkt der Welt, beginnt der Heilungsaspekt der Transformation. Die ersten Abschnitte waren der Reinigung und Befreiung gewidmet, die sich oft schmerzhaft und chaotisch anfühlten. Aber jetzt ist die Frau der Welt »entrückt« und damit auch den Rollen, die man ihr aufdrückt.
Sie sieht die Oberwelt aus der Perspektive der Unterwelt und erkennt, was alles dort nicht stimmt. Die Schärfe, mit der sie das erkennt, wird sich später wieder mildern, doch hier, ist sie unbestechlich. Sie identifiziert all die Lügen, die man ihr erzählte, um sie zu kontrollieren, auch die Lügen jener, die sie lieben, wie ihre Eltern.
Hier trinkt sie aus dem Becher der Wahrheit, den die Knochenmutter ihr hinhält. Er ist Gift und Medizin zugleich, so wie alle potenten Heilmittel.
Die Frau gelangt innerlich (und äußerlich) an einen Ort der Wahrheit, wo sie erfährt, dass ihre Erfahrungen nicht auf sie allein beschränkt sind, sondern archetypisch bedingt sind für Frauen, die sich aus den patriarchalen Rollenmustern befreien wollen. Zwar hat der Feminismus große Fortschritte erlangt, doch in unserem Alltag haben viele Frauen ihre Mitte und ihre eigene weibliche Rolle noch nicht gefunden, sondern leben die nach, die durch eine nach wie vor männlich geprägte Gesellschaft vorgegeben werden, was zu einem Gefühl der Entfremdung und fehlenden Resonanz führt.
Hier treffen wir auf Baba Yaga, der kein Leid auf der Welt fremd ist und bei ihr dürfen wir sitzen und klagen, eine Weile zumindest. Wir verschwinden aus der Oberwelt, sind nicht mehr sichtbar, hier, am tiefsten Punkt.
In einer Geschichte würde diese Station repräsentiert werden von einer Frau, die einige Tage auf einer Akutstation in der Psychiatrie verbringt, wo sie einige schmerzhafte Wahrheiten über sich selbst und das Leben lernt.
Im Film und in der Literatur wird es drastisch: Die Titanic sinkt endgültig, Bella erkennt, dass sie niemals sicher sein wird, wenn sie an Edwards Seite bleibt, Kassandra wird von Aeneas verlassen.
8. Das Opfer
Wer aus der Reise in die Unterwelt etwas mitnehmen möchte, der muss einen Teil von sich da lassen. Die Frau hat nichts mehr, keine Kleider, keinen Schmuck, nicht einmal mehr Haare. Also muss sie etwas von sich heraustrennen und übergeben. Es kann ein Stück ihrer Seele sein oder ihres Körpers. Vielleicht ist es ihre Fruchtbarkeit. Vielleicht der Kinderwunsch. Vielleicht der Glaube an ihre Unverletzbarkeit, die Beziehung an ihre Mutter oder der Glaube an eine funktionierende Partnerschaft mit einem Mann. Es ist etwas Unwiederbringliches, etwas, das sie nie wieder erhält und das ihr Leben für immer verändert. Sie wird zögern. Sie wird hadern. Doch sie ist schon so weit gekommen. Sie wird das Opfer bringen.
In meiner Reise war es der Wunsch, eine Partnerschaft mit einem Mann zu leben, denn das bedeutete immer, dass ich Kompromisse einging, nur um nicht allein zu sein.
Das Opfer, das ich brachte, war die tiefe Sehnsucht nach romantischer Liebe, mein »Moby Dick«, dem ich mein ganzes Leben lang schon nachjagte, ein großes Opfer.
Die Frau erkennt, dass sie etwas aufgeben muss, meistens die Vorstellung von Glück, die ihr anerzogen wurde. Eine Partnerschaft, Erfolg im Beruf, etc. allein können sie nicht glücklich machen, solange sie sich selbst nicht gefunden hat. Sie muss es wirklich loslassen, dem großen Sterben anheimgeben. Von hier gibt es keine Wiederkehr, hier gibt es kein »Vielleicht« oder »Ich weiß nicht«.
Der Trank aus dem Becher der Wahrheit hat die Frau gestärkt. Sie ist jetzt, todesmutig, bereit, dieses Opfer zu bringen. Sie schneidet einen Teil von sich selbst heraus und opfert ihn blutig auf dem Altar der Wahrheit.
Das Opfer hat oft etwas mit versteckten Scham- und Schuldgefühlen zu tun. Es sind Dinge, die wir uns selbst nicht eingestehen wollen, die wir leugnen und ignorieren, auch vor uns selbst.
Wir opfern unser »falsches« Selbst, damit unser neues sich manifestieren kann.
Wir erinnern uns hier an die griechische Persephone, die die Hälfte des Jahres in der Unterwelt verbringen muss.
In unserer Gegenwart kann diese Phase so aussehen: Eine Frau macht den Missbrauch in ihrer Familie öffentlich und erträgt die Anfeindungen und die Isolation.
Literatur und Film erzählen uns diesen Abschnitt so: Jack ertrinkt im eiskalten Atlantik (würde er überleben, würde Rose nur wieder eine neue Rolle annehmen, statt sie selbst zu werden), Bella enttäuscht ihren Vater und Kassandra trennt sich von Aeneas.
9. Der Blick in Inannas Spiegel
Wer ein Opfer bringt, der wird belohnt. In diesem Fall kann sich die Frau nun so sehen, wie sie wirklich ist. Sie darf einen Blick in den magischen Spiegel der Wahrheit werfen. Sie sieht sich als die göttliche Inkarnation, die sie immer war, bevor die Glaubenssätze des Patriarchats sie unterdrückten und sie von ihrer Anbindung an die Große Mutter trennten. Sie sieht ihre Schönheit, sie sieht, dass sie unbesiegbar ist, weil sie bis zu dieser tiefsten Höhle vorgedrungen ist, weil sie keine Angst vor der Wahrheit hatte. Sie erkennt, in welcher Lüge sie all die Zeit in der Oberwelt gelebt hat, und sie erkennt den gewaltigen Verlust, den das Patriarchat den Frauen aufgebürdet hat, über so viele Generationen hinweg. Sie erkennt, dass sie Teil einer jahrtausendealten Schwesternschaft ist.
Sie erkennt ihr eigenes, unsterbliches, unverletzliches ich, stark, weiblich, unzerstörbar, mit unendlicher Schöpferkraft, jenes ich, das die Männer so sehr fürchten und von dem sie sie mit aller Macht zu entfremden versuchten.
Wenn sie dazu bereit ist, darf sie einen Blick in den Spiegel werfen. Sie darf sich selbst erkennen, mit all ihren Stärken und Schwächen, ihren Verletzungen und ihrem Potenzial.
Davon erzählt uns die Geschichte von Inanna, die in die Unterwelt zu ihrer Schwester Ereskigal reist und dafür große Herausforderungen auf sich nimmt.
Was die Frau von dort mitnimmt, ist das unbestechliche Vertrauen in sich selbst, in ihre Kraft, in ihre Macht. Niemand kann ihr das jemals wieder nehmen. Sie weiß jetzt, wer sie ist und das ist mehr wert als all das, was sie auf dem Weg hierher aufgegeben hat.
Jetzt erst beginnt die wahre Magie ihres Seins.
Eine mögliche Geschichte der Jetztzeit wäre eine Frau, die bereit ist, endlich auch Wut und Zorn zuzulassen und stellt ihren Vergewaltiger zur Rede, was ihr einen anderen Blick auf sich selbst ermöglicht.
In Literatur und Film wird es spannend: Rose ist sich unsicher, ob sie auch sterben möchte, kämpft aber dann um ihr Überleben, Bella erkennt, dass sie Edward liebt und für diese Liebe bereit ist, alles zu opfern, und Kassandra zieht sich in den IDA-Berg zurück.
10. Die Heimkehr in den Schoß der Göttin
In all dieser Erkenntnis weint und trauert die Frau, sie trauert um all das, was verloren ist und das, was sie gefunden hat und sie wird zugleich durchströmt von unendlichem Glück, denn endlich, endlich ist sie angebunden. Da ist sie die Liebe, die Mutterliebe, die Liebe, nach der sie so lange gesucht hat. Sie kehrt heim in den Schoß der Großen Göttin, die immer da war und immer da sein wird, jene, von der wir alle kommen und zu der wir alle zurückkehren. Sie erfährt die Liebe, nach der sie sich immer gesehnt hat, vollkommene Einheit. Sie ist eine Tochter der Göttin, in all ihren Aspekten, die Jungfrau, die Mutter, die alte Weise, die Knochenmutter. Sie ist eins mit der Welt und dem Universum. Alle Wunden der Frau, alle Traumata, sie heilen, verschwinden. Aller Schmerz endet.
Das kann ganz plötzlich, ohne äußeren Anlass, geschehen. Weil sich in der Frau etwas zutiefst gewandelt hat, wandelt sich nun auch das Außen. Ihre energetische Signatur ist eine andere. Sie ist heil, sie ist transformiert, eingehüllt in die Liebe der Großen Mutter.
Das Motto dieser Stufe ist »Selbstliebe«. Denn die Liebe, die wir uns selbst entgegenbringen, ist nichts anderes als die Liebe der Großen Mutter. Wir erkennen, dass wir uns selbst lieben, nähren und heilen können und dürfen. Das ist die wichtigste Lektion von allen.
Die Frau erkennt, dass sie nicht allein ist, sondern angebunden an eine nichtpatriarchale, allumfassende Kraft der Weiblichkeit, die alles durchströmt. Sie spürt eine mütterliche Gegenwart und eine Verbindung zu anderen Frauen, die die gleiche Reise antreten wie sie und sucht die Nähe zu ihnen.
Das göttliche Licht, das uns an dieser Station findet, wird verkörpert von Sophia, die Allwissende und Weise, laut der Gnosis Mutter der Schöpfung.
In einer Geschichte könnte das so aussehen: Eine Frau in einer unglücklichen Beziehung lernt, sich selbst zu lieben.
Als Blockbuster und Literaturklassiker sieht diese Station folgendermaßen aus: Rose wird gerettet, Bella kann Edward retten, Kassandra bekommt Zwillinge.
11. Die Wiedergeburt
Aus dem Schoß der Göttin, aus dem Quell allen Lebens, wird die Frau wieder geboren. Sie erhebt sich, setzt sich neu zusammen, ein neues, ganzes, heiles ich, unberührt, unverletzt von all den Anfeindungen des Patriarchats, strahlend schön, wird geboren. Sie ist geheilt. Sie ist ganz. Sie ist heilig, heil geworden im Raum der Göttin. Durch sie und mit ihr hat sie sich und ihre Vorfahren, ihre ganze Ahnenlinie geheilt und Segen über ihre Töchter gebracht, die sie vom patriarchalen Fluche befreit hat. Sie muss sie nicht korrumpieren, damit sie in der patriarchalen Welt funktionieren.
Jetzt ist die Frau bereit, sich selbst neu zu erschaffen. Sie hat ihre alten Rollenmuster abgestreift, auch ihre alten Überzeugungen abgelegt und wird als sie selbst wiedergeboren. Sie ist mit sich selbst im Reinen.
Hier ist es Lilith, die sich weigerte, einem Mann untertan zu sein und die die Kraft und das Feuer dieser Neugeburt begleitet.
Mit dem Wissen um ihr neues »Ich«, ihrem neugewonnen Vertrauen in sich selbst kehrt die Frau zurück in die Welt. Sie glüht, vor Kraft und Selbstliebe und für manche ist dieses Licht beinahe zu hell.
Als Geschichte denkbar wäre folgender Plot: Nach einer öffentlichen Bloßstellung im Internet findet eine Frau den Mut, zu ihrer Geschichte zu stehen und ihren Gegnern die Stirn zu bieten.
Auch Film und Literatur kennt diesen Abschnitt: Rose nimmt Jacks Nachnamen an und erreicht New York, Bella will sich in einen Vampir verwandeln und Kassandra kehrt nach Troia zurück.
12. Die Herstellung der ursprünglichen Ordnung
Die Frau kehrt zurück in die obere Welt. Dort hat man sich schon Sorgen gemacht. »Was mit der wohl nicht stimmt?« Jetzt stimmt gar nichts mehr. Wie eine Furie fegt sie durch ihr Leben und macht Ordnung. Sie schmeißt alles raus und um, was nicht mehr stimmt, Männer, Job, Freundinnen. Nichts, was nach patriarchalen Regeln wirkt, darf noch in ihrem Leben sein. Es ficht sie nicht mehr an, was jemand über ihren Körper, über ihre Handlungen sagt. Sie ist frei und trägt das Feuer der Göttin in sich. Sie ist geschützt und gehalten in einem unsichtbaren Raum für all jene, die nie im Schoß der Göttin waren. Das Feuer brennt in ihr, doch es verbrennt sie nicht. Sie ist eine Frau der alten Ordnung, jene Ordnung, die war, bevor die Männer sie usurpierten und die Welt in Chaos und Leid stürzten.
Es ist wichtig, diese Stufe nicht als »Kampf« oder »Rache« zu verstehen. Es geht vielmehr darum, dass die Frau aufgrund ihrer tiefen, inneren Entscheidung ihre Energie neu ausrichtet und das allein sorgt für mannigfaltige Veränderungen im Außen. Sie belohnt das, was ihr wichtig ist – sie selbst, ihr Körper, ihre Kinder und ihre Projekte – mit Aufmerksamkeit und Liebe und sie entzieht ihre Energie all jenen Zusammenhängen, die sie nur benutzt haben, denen sie dienlich sein sollte und die sie krank gemacht und die Krise hervorgerufen haben.
Verkörpert wird diese Phase durch die Göttin Durga.
Durga ist eine hinduistische Göttin, die als Verkörperung der göttlichen weiblichen Energie (Shakti) und des universellen Schöpfers verehrt wird. Sie ist eine der bekanntesten und meistverehrten Göttinnen in Indien und hat viele Attribute und Namen, darunter Amba, Bhavani, Jagadamba, Annapurna, Kali und Parvati.
In der hinduistischen Mythologie ist Durga als die Kämpferin gegen das Böse bekannt. Eine ihrer bekanntesten Legenden erzählt, wie die Götter im Himmel von den bösen Dämonen bedroht wurden und keine Möglichkeit hatten, sie zu besiegen. Daraufhin schufen sie Durga als ihre Waffe, indem sie ihr verschiedene Kräfte und Waffen gaben.
Durga kämpfte gegen die Dämonen und besiegte sie schließlich in einem epischen Kampf. Sie symbolisiert Mut, Stärke und Weisheit und wird oft mit vielen Waffen dargestellt, um ihre Macht zu verdeutlichen.
Als Plot können wir uns folgende Situation vorstellen: Gegen den Widerstand ihres Vaters setzt eine Frau ihre Leidenschaft für Kunst durch und beginnt ein entsprechendes Studium.
In Literatur und Film ist beides schon bekannt: Rose lebt ihr Leben frei und unbekümmert, sie lebt ihre Interessen aus, Bella und Edward sind endlich zusammen, Kassandra entscheidet sich gegen Aeneas, weil dieser droht, ein Held zu werden.
13. Die neue, alte Welt der weiblichen Ganzheit
Jetzt lebt die Frau ihre Wahrheit, die aus ihrer Mitte heraus spricht. Sie kann sich einen Gefährten suchen oder es lassen, doch sie weiß, dass ihr Glück nicht in der Paarbeziehung liegt, sondern in sich selbst. Männer reagieren auf ihre geheilte Weiblichkeit mit Faszination, manchmal auch mit Aggression, doch sie hat keine Angst mehr. Sie hat das Spiel durchschaut. Ungeheilte Weiblichkeit jüngerer Frauen reagiert auf sie mit Manipulationsversuchen, mit der unbewussten Sehnsucht nach der starken, heilen Mutter, die es doch im Patriarchat nirgendwo gibt, alle möglichen Sehnsüchte und Vorwürfe werden an sie adressiert. Es wird versucht, sie in alle möglichen Dramen hineinzuziehen, damit sie wieder hineinpasst, in diese Welt aus Chaos und umgestürzter Ordnung, doch sie lässt sich nicht aus ihrer Mitte bringen. Sie ist sich selbst genug. Sie lebt ihre Wahrheit, ohne zu missionieren. Die Göttin spricht aus ihr und durch sie. Sie ist angebunden an etwas, das so viel größer und älter ist, als alles, was jetzt in dieser Welt ist. Sie kann kämpfen, wenn sie das möchte, doch sie wählt ihre Schlachten weise. Meist beschränkt sie sich auf die stille Bewunderung der Welt, der Schöpfung der Großen Mutter – ihrer Mutter! Was sie ist, war immer da und wird immer sein.
Jetzt lebt die Frau ihr eigenes, authentisches Selbst und richtet sich nicht mehr nach anderen.
Sie geht als Vorbild voraus, sie ruht in sich und ihrem Körper, was nicht heißt, dass man sie nicht mehr treffen kann. Aber sie hat jenen Punkt in sich gefunden, ein Gleichgewicht, eine Resonanz mit dem Göttlich-Weiblichen, zu dem sie immer wieder zurückkehrt und das bedeutet, dass man sie nicht mehr ver-rücken kann. Sie selbst ist jetzt das Zentrum ihrer Welt, mit einer großen Gravitationskraft.
Gleich mehrere Göttinnen symbolisieren diesen Abschnitt: Artemis, Vila, Isis – Selbstbestimmung, die Fähigkeit, die eigene Gestalt zu wandeln und sich zurückzuziehen, Freiheit, weibliche Rollen so zu gestalten, dass sie Frauen erfüllen, wenn wir sie schon nicht ganz abstreifen können.
Als moderne Übersetzung können wir uns folgende Situation vorstellen: Eine Frau gründet einen spirituellen Zirkel, zu dem sie Frauen einlädt, um mit ihnen Weiblichkeit zu feiern.
So enden auch Filme und Bücher: Rose kehrt als alte Frau zurück und versenkt »Das Herz des Ozeans«, ein Kreis schließt sich, Edward und Bella wollen für immer zusammen sein, auch wenn Bella (zunächst) kein Vampir wird, und Kassandra entscheidet sich für den Selbstmord, weil sie erkennt, dass es in der streng patriarchalen Welt des antiken Griechenland für sie niemals Freiheit geben kann (im Gegensatz zu unserer Gegenwart).